Die ganze Nacht habe ich Janina von Mutter erzählt. Geduldig hörte sie mir zu und sagte, als ich schwieg: »Du mußt eine wunderbare Mutter haben.«
Jetzt, zwei Tage nach dem Postempfang, ist es wieder wie immer im Lager. Am ersten Tag war die Stimmung gedämpft, jeder war mit seinen Gedanken in der Heimat und verkroch sich in sein Inneres. Viele mochten wohl auch an Julius Kerner denken, den eine Nachricht aus der Heimat in den Tod trieb, diesen Kerner, den ein Leutnant Markow nicht klein bekam, der eine Stütze war mit seinem frechen Mund . und den ein paar Zeilen aus Deutschland so erschütterten, daß er sich nackt in den Schnee legte, um zu erfrieren.
Auch für Dr. von Sellnow war eine Karte dabei. Worotilow behielt sie in der Kommandantur und wußte nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Daß die Karte ins Lager kam, bewies, daß man in Moskau nichts von einer Verlegung Sellnows in das Straflager wußte. Das war eine völlig neue Sicht der Dinge, das konnte sehr viel ändern, denn damit stand fest, daß es eine regionale Angelegenheit blieb, die man vielleicht irgendwie zum Guten wenden konnte. Wenn die Verantwortung bei der Division in Stalingrad lag, wenn der örtliche MWD die Verschickung veranlaßte, dann war die Hoffnung groß, Sellnow wiederzusehen . wenn er noch lebte.
Auch Worotilow schien das zu denken. Er schickte die Karte nicht zur Zentrale zurück, sondern behielt sie im Lager. Er steckte sie in seine Uniformtasche und unterrichtete Dr. Kresin. Von Dr. Kresin weiß ich es . wir alle wurden angehalten, der Kasalinsskaja nichts von der Post zu sagen. Wir wissen, daß sie sich wieder das Leben zu nehmen trachtet, wenn sie erfährt, daß Sellnow in Deutschland eine Frau und zwei Kinder hat . eine Frau, die mit aller Kraft ihres liebenden Herzens auf ihn wartet. Die Kasalinsskaja würde es nicht ertragen - sie würde sich und Sellnow der Leidenschaft opfern. Wir alle wissen es. Darum müssen wir schweigen.
Eine Woche später kam Sergej Kislew wieder ins Lager. Seinem Sohn ging es verhältnismäßig gut. Die Operation hatte keinerlei Nachwirkungen. Er konnte zwar vorläufig nur flüssige Nahrung zu sich nehmen, aber auch das würde sich bald umstellen lassen. Professor Pawlowitsch sei begeistert und habe im Kolleg an Hand von Zeichnungen die Operation noch einmal demonstriert. Kislew lächelte Worotilow an. »Ich glaube, er will die Operation in der Zeitschrift >Der Sowjet-Arzt< veröffentlichen - als seine eigene..«
»Und die Schüler, die dabeisaßen und sahen, daß Dr. Böhler sie ausführte?«
Kislew winkte ab. »Sie sind von der guten Laune des Chefs abhängig - bei der Prüfung vor allem! Und durchzufallen kann sich keiner unserer Staatsschüler leisten. Es wäre Sabotage!«
»Das alte Lied«, Worotilow seufzte. »Was führt Sie eigentlich her, Genosse Kislew?«
»Der deutsche Arzt im Lager 53/4.«
»Sellnow?« Worotilow sprang auf. »Sie haben Nachricht von ihm?«
»Ja. Leider keine gute. Er liegt im Sterben.«
»Nein!« Worotilow war ehrlich entsetzt. Er riß die Tür auf und brüllte einem Posten zu, sofort Dr. Böhler zu holen, sofort! Der Rotarmist rannte davon. »Wie ist das denn möglich? Ein Rückfall der Lungenentzündung?«
»Nein. Man hat ihn vergiftet.«
»Vergiftet?« Er starrte Kislew zweifelnd an. »Man hat ihn vergiftet?«
»Ja. Keiner weiß, mit was. Er selbst ist nicht bei Besinnung. Sein Obermann, ein Deutscher, der Buffschk heißt, pflegt ihn und weicht nicht von seinem Lager. Der Leutnant und Lagerkommandant weigert sich, einen Arzt holen zu lassen. >Soll verrecken!< hat er gesagt. Zwei SS-Ärzte, die auch im Lager sind, helfen ihm. Sie haben ihm den Magen ausgepumpt.«
»Solch eine Schweinerei!« Worotilow hieb mit der Faust auf den Tisch. »Ich fahre sofort nach Stalingrad! Man will keinen Arzt holen?! Ich schieße den Leutnant nieder!«
Dr. Böhler kam herein, erhitzt und atemlos. Er blickte auf Kis-lew und dachte, der Sohn sei gestorben. Aber dann bemerkte er den tobenden Worotilow und zog die Tür hinter sich zu.
»Sellnow ist vergiftet worden!« schrie der Major. »Das zweite Mal! Erst im Lager >Roter Oktobers jetzt im Straflager! Er liegt im Sterben.«
»Ich habe es geahnt«, sagte Dr. Böhler schwach. Also kamen doch alle Bemühungen zu spät. Man vergiftet einfach, was unbequem ist -das ist unauffälliger als ein Genickschuß oder das Zuschandentreiben eines Menschen auf dem Eis der Wolga. Bitterkeit stieg in ihm hoch. »Ich habe es geahnt, daß wir ihn nie wiedersehen. Weiß es die Ka-salinsskaja?«
»Nein! Bloß das nicht!« Worotilow hob entsetzt die Hände. »Sie wird versuchen, sich wieder umzubringen. Das hat Zeit, bis Sellnow wirklich gestorben ist! Der Leutnant im Lager weigert sich, einen Arzt zu holen! >Soll verrecken<, hat er gesagt.«
»Haben Sie anderes erwartet, Major?« Wut und Trauer schnürten Dr. Böhler die Kehle zu. »Sie sind doch ein Verfechter der Macht um jeden Preis. Und wenn es das sadistische Austoben an einem wehrlosen Kranken ist.«
Worotilow sah Böhler kalt an. »Sie sind übermäßig erregt«, sagte er. »Ich hätte es Ihnen gar nicht sagen sollen!«
»Und was geschieht nun mit Sellnow?«
»Voraussichtlich wird er krepieren. Ich sage nicht sterben -«, Worotilow sah an die Decke, »ich sage krepieren, das kennzeichnet die
wahre Situation.«
»Und es gibt keinen, der da eingreifen kann! Es gibt nur gesenkte Köpfe, die Befehle empfangen, und Speichellecken, aber es gibt keinen unter den ruhmreichen Rotarmisten und tapferen Offizieren, die für die Gerechtigkeit auch nur ein Wort riskieren!«
»Haben Sie es bei Hitler gekonnt?«
»Und haben Sie nicht Hitler gestürzt, eben weil wir das nicht konnten?! Befreiung des deutschen Volkes von der Knechtschaft des Tyrannen hieß doch die offizielle Rechtfertigung des Krieges!«
Worotilow lächelte hämisch. »Den Krieg haben Sie, die Deutschen, begonnen. Nicht wir! Sie sind in Polen eingefallen. Sie haben Belgien, Holland, Frankreich überrannt, Norwegen, Dänemark, Griechenland, Italien, Afrika, den Balkan und unser Mütterchen Rußland - trotz eines Freundschaftspaktes! Vergessen Sie das nicht! Auch Sellnow ist nur ein Opfer Ihres eigenen Systems! Nicht Rußland richtet ihn zugrunde, sondern Deutschland!«
Dr. Böhler antwortete nicht. Er sah auf Sergej Kislew, der dem Gespräch zuhörte, ohne ein Wort zu verstehen. Als Worotilow schwieg, blickte auch er Dr. Böhler an.
»Ich habe seinem Sohn geholfen«, sagte Dr. Böhler hart. »Gibt es in ganz Rußland keinen Menschen, der meinem Freunde hilft?«
Major Worotilow zuckte zusammen. Ein Gedanke ergriff ihn, ein Funken Hoffnung. Er schrie zur Tür hinaus auf den Platz vor der Kommandantur: »Macht den Wagen fertig! Sofort!«
Dann kam er zurück und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf Böhler. »Sie haben es gesagt! Das ist die einzige Möglichkeit! Ich werde bei Pawlowitsch um Sellnow bitten. Ihn wird man vorlassen - ihn allein! Pawlowitsch ist Stalinpreisträger und >Held der Nation<! Seine Bitten sind halbe Befehle. Ich fahre nach Stalingrad! Jetzt gleich! Vielleicht kann er Sellnow noch retten!«