Er stieß Kislew an, rief ihm etwas zu und rannte aus dem Zimmer. Im Laufen zog er sich den dicken Mantel an.
Dr. Kresin kam von den Blocks herüber. Er war mißgelaunt, denn der Ernährungszustand der Gefangenen war schlecht - es war ein schlimmer Winter geworden, schlimmer, als man ihn bei allem Pessimismus vorausgesehen hatte. Er sah Worotilow mit Kislew zu den Wagen rennen und stieß auf Dr. Böhler, der gerade die Kommandantur verließ.
»Wollen die zwei ein Autorennen veranstalten?« brummte er.
»Ja.«
Dr. Kresin riß die Augen auf. »Wohl verrückt, was?«
»Nein - sie rennen um ein Leben: Sellnow liegt im Sterben!«
»Das hat noch gefehlt!« schrie Dr. Kresin. »Haben sie ihn fertiggemacht?«
»Er ist vergiftet worden.«
»Gottverdammte Sauerei! Wenn ich kein Russe wäre, würde ich schreien: Ich scheiße auf euren Staat! Ich wandre aus! Aber ich bin Russe.« Er sah Dr. Böhler hilflos an. »Manchmal schäme ich mich meines Mütterchens.«, sagte er leise.
Dr. Böhler legte ihm die Hand auf den Arm. »Sie sind ein guter Kerl, Kresin. Daß es Sie in Rußland gibt - das wiegt vieles andere auf.«
»Blödsinn!« Dr. Kresin sah zu den beiden Wagen hinüber, die jetzt aus dem Lager fuhren. Zuerst Major Worotilow, dann Sergej Kislew. »Und wo wollen die jetzt hin?«
»Nach Stalingrad! Zu Professor Pawlowitsch. Er soll versuchen, Sellnow zu helfen.«
»Dieser Superrusse? Nie!« Dr. Kresin schüttelte den Kopf. »Er hat Sie nur holen lassen, um von Ihnen zu lernen. Er hat Ihnen auf die Finger gesehen - jetzt macht er es allein und steckt den Ruhm dafür ein. Sie werden noch von ihm hören: Stalinpreisträger Professor Taij Pawlowitsch, Rußlands größter Chirurg!«
»Das ist mir alles gleichgültig!« Dr. Böhler sah den in der Ferne im Schnee verschwindenden Wagen nach. »Wenn er nur Sellnow retten kann.«
In Stalingrad fuhr Worotilow geradewegs in die Staatsklinik und ließ sich bei Pawlowitsch melden. Er wußte, daß sein Name und sein Rang allein keinen Pawlowitsch aus der Ruhe bringen konn-ten und setzte deshalb hinzu: »Ich bin Kommandant des Lagers, in dem Dr. Böhler lebt.«
Zehn Minuten später ließ ihn Pawlowitsch eintreten. Der Greis saß hinter einem riesigen Schreibtisch, der bedeckt war mit Röntgenplatten und Krankengeschichten.
Worotilow grüßte ehrfürchtig und kam gleich zur Sache.
»Genosse Professor«, sagte er, ehe Pawlowitsch etwas fragen konnte. »Mich schickt nicht allein unser Arzt Dr. Böhler, sondern auch das Gewissen.«
Pawlowitsch hob die Augenbrauen. Gewissen! Bei einem Major der Roten Armee! Er mußte lächeln und beugte sich weit vor. »Sie sind seelisch krank, Genosse Major?«
»Wenn Sie mir nicht helfen - ja! Dr. Böhler hat bei Ihnen eine Operation gemacht, die für die russische Chirurgie richtungweisend ist. Und ich möchte Sie als Lagerkommandant des Plennis Dr. Böhler bitten, ihm diese große Tat durch eine große Tat der Menschlichkeit zu danken.«
»Das klingt sehr geheimnisvoll.« Pawlowitsch kramte in seinen Papieren. Er suchte hinter den Sinn der Worte zu kommen und brauchte Zeit. »Um was handelt es sich denn?«
»In einem Straflager, dem Lager 53/4 bei Nishnij Balykleij, lebt seit einigen Wochen ein anderer Arzt - der Freund Dr. Böhlers, ein Dr. von Sellnow. Dieser Sellnow ist vergiftet worden - wir haben es eben erfahren -, und der dortige Leutnant weigert sich, einen Arzt zu holen, um ihn zu retten. Sie haben als größter Chirurg Rußlands.«, Pawlowitsch sah stolz auf, »...die Möglichkeit, sich Eintritt in dieses Lager zu verschaffen und Dr. von Sellnow zu retten - das wäre die große menschliche Tat, mit der Sie Dr. Böhler danken könnten!«
»Danken?« Pawlowitsch erhob sich; klein, zwergenhaft, wie zusammengeschrumpft stand er hinter dem Tisch. »Was habe ich dem deutschen Arzt zu danken? Die Operation? Ich hätte sie auch ohne ihn gemacht. Mich interessierte nur, wie weit die deutschen Ärzte in ihrer Operationsmethode sind - darum ließ ich einen deutschen
Kriegsgefangenen die Operation ausführen. Glauben Sie, ich hätte es nicht allein gekonnt?«
Worotilow biß sich auf die Lippen. Er hatte keine andere Antwort erwartet, er kannte den Ruf Pawlowitschs. Aber er blieb stehen -auch als der Professor um den Tisch herumkam und ein Buch aus seinem Bücherschrank nahm, als sei der Major gar nicht mehr im Zimmer.
»Sie helfen dem deutschen Arzt also nicht?« fragte Worotilow steif.
»Ich sehe dazu keine Veranlassung.«
»Darf ich Sie daran erinnern, daß Dr. Böhler auch Russen in seinem Lazarett behandelt hat. Leutnant Markow - er wäre gestorben ohne Dr. Böhler! Kommissar Kuwakino - er wäre seinen Verletzungen erlegen. Die Leiterin der Sanitätsbrigade Stalingrad, Genossin Janina Salja, ist auf unserer Lungenstation, weil kein russischer Arzt ihr helfen kann.«
Der Professor fuhr herum. »Ich hatte ihr zu einem Aufenthalt auf der Krim geraten!«
»Was nutzt es, wenn man die Lunge selber nicht angeht! Die deutschen Ärzte haben um sie gekämpft - jetzt hat sie einen Pneu und erholt sich langsam.«
Professor Pawlowitsch warf das Buch auf den Tisch, mitten auf die Röntgenbilder. »Ich kann es mir in meiner Stellung nicht leisten, in ein Straflager zu gehen, nur um einen deutschen Gefangenen zu behandeln!«
»Sie konnten es sich auch nicht leisten, einen deutschen Gefangenen in das Staatskrankenhaus zu holen, um einen Russen vor dreihundert russischen Studenten zu operieren!«
»Ich lasse Sie hinauswerfen!« sagte der Greis leise. Er bebte vor Wut. »Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig!«
Worotilow starrte ihn feindselig an. Auch ihn überwältigte die Erregung.
»Sie sind ein Arzt, Genosse Pawlowitsch! Sie nennen sich Arzt. Aber ein Arzt ist nicht nur ein Knochensäger oder Pillenverschreiber. Wo ein Mensch um Hilfe ruft, hat er zu helfen! Ein großer Name
verpflichtet - nicht nach außen hin, sondern in der Stille und um so mehr, je lauter der Ruhm nach außen schallt!«
»Hinaus!« schrie Pawlowitsch. »Noch ein Wort, Genosse Major, und ich lasse Sie füsilieren!« Der kleine Asiate zitterte, sein weißhaariger Kopf stieß vor und zurück, als sei er ein Geier, der seine Beute zerreißt. Wortlos drehte sich Worotilow um und verließ das Zimmer. Hinter sich hörte er, wie Pawlowitsch die Bücher vom Tisch warf und dann zum Telefon griff. Aber das Zuschlagen der Türe übertönte, was er in die Sprechmuschel schrie.
Auf der Rückfahrt wurde Worotilow beim Einbiegen in die Straße zum Lager von einer großen, schwarzen Staatslimousine überholt. Heulend raste sie an ihm vorbei. Hinter den blanken, schußsicheren Scheiben hockte Professor Pawlowitsch, neben sich einen Oberst und einen Hauptmann.
Lächelnd sah Worotilow dem Wagen nach. Er hielt an und beobachtete, wie er in die große Straße, die wolgaaufwärts führte, einbog - Richtung Saratow; die Straße, die auch durch Nishnij Baly-kleij läuft, vorbei an den verschneiten Blockhütten und Baracken von 53/4.
Werner von Sellnow lag in tiefer Bewußtlosigkeit, als Pawlowitsch im Lager 53/4 eintraf. Der junge Leutnant, erstaunt, daß man wegen eines dreckigen Deutschen solch ein Aufhebens machte, stand wie eine Säule, als der Oberst der Stalingrader Division und der Hauptmann als Leiter der Straflager durch das kleine Tor fuhren und ihn anbrüllten. Er ließ das Gewitter stumm über sich ergehen, er hörte Worte, die bisher in seinem Sprachschatz nicht vorkamen und die er sich für seine Untergebenen merken wollte. Der Oberst hielt sich mit Reden nicht auf, er half dem alten Pawlowitsch aus dem Wagen und nahm dessen Tasche an sich. Dann winkte er einigen steif stehenden Rotarmisten und befahl ihnen, die Bahre aus dem Gepäckraum zu holen.
Professor Taij Pawlowitsch sah sich um. Die Hütten . der tiefe
Schnee, der Schneesturm, der über das Lager fegte ... die offene Latrine, vereist und mitten im Sturm . die wenigen Plennis, die sich wie Gespenster durch die Lagergassen schleppten. Mit zusammengepreßten Lippen wandte er sich an den Oberst.