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Worotilow schüttelte den Kopf. Seine Augen waren schmal, aber in diesen Schlitzen leuchtete etwas, was sich Dr. Böhler nicht erklären konnte.

»Sie werden aus meinem Lager ein großes Lazarett machen, und ich bin stolz darauf, und Dr. Kresin auch. Sie sind ein großer Arzt.«

»Ich tue nichts als meine Pflicht.«

»Wir wollen uns nicht um Worte streiten. Sie werden alles bekommen, was Sie brauchen . ich habe es schon einmal gesagt. Aber Ihre verwundeten oder kranken oder gesunden Landsleute interessieren mich nicht. Sie werden einen Diebstahl büßen.«

Sekundenlang sah Dr. Böhler dem Major in die kleinen Augen. Zwei Männer, die jeder am Ende einer riesigen Brücke standen, über die kein Weg zueinander führt, weil sie in der Mitte zerstört ist. Nur das Geräusch ihrer Stimmen dringt von Ufer zu Ufer, aber die Worte sind verschieden.

»Niemand lernt euch Russen kennen«, sagte Dr. Böhler leise. Dann wandte er sich ab und verließ den Raum. Sellnow und Schultheiß wollten ihm folgen. Die Stimme Dr. Kresins hielt sie fest.

»Sie bleiben!« Seine dicken Finger wiesen auf den jungen Unterarzt. »Sie können auch gehen«, rief er Sellnow zu.

Dr. Schultheiß trat zurück ins Zimmer und sah sich um. Piotr Markow hatte seine Pistole umgeschnallt und verließ die Baracke. Er strebte zur Baracke II, Block 7, wo eben Karl Georg seine Blumen fer-tig begossen hatte und nun mit seinen Freunden an der Wand lehnte und Machorka rauchte.

Dr. Sergeij Basow Kresin schob Dr. Schultheiß mit dem Fuß einen Stuhl zu. »Setzen!« kommandierte er. Verblüfft ließ sich Schultheiß nieder und spürte, daß er blaß wurde und heftige Angst in ihm aufstieg. Dr. Kresin hatte die Hände gefaltet, als er zu sprechen begann. Er sah friedlich aus, als ob er sich als Privatmann mit einem jungen Kollegen unterhalte. Diese Haltung mahnte Schultheiß zur Vorsicht.

»Wir haben gehört«, sagte Dr. Kresin freundlich, »daß Sie den operierten Patienten mit einem neuen Medikament, einem Pulver, behandelt haben. Stimmt das?«

Schultheiß kniff die Lippen aufeinander. Woher wußte Doktor Kresin von dem Penicillin? Sollte er lügen? Sollte er die Wahrheit sagen?

»Wie soll denn das Medikament ausgesehen haben?«

»Weiß, Herr Doktor! Es war Penicillin! Ein amerikanisches Präparat, das wir als Militärlieferung erhalten. Wie kommen Sie an dieses Pulver?«

»Es war in unserer Lazarett-Apotheke.«

»Es steht aber auf keiner Ihrer Bestandslisten verzeichnet.«

»So?« Dr. Schultheiß hob bedauernd die Schultern. »Das ist vielleicht ein Fehler, der leicht zu berichtigen ist. Schreiben Sie bitte dazu: Eine große Dose mit Penicillin-Pulver.«

Dr. Kresin grinste. »Und wann geliefert, mein Junge?«

»Das weiß ich nicht.«

Major Worotilow, der jetzt an Stelle von Markow am Fenster stand, drehte sich herum und wippte mit den Fußspitzen auf dem Dielenboden.

»Sie haben also auch das Penicillin gestohlen!«

Dr. Schultheiß erkannte die Falle, die man ihm gestellt hatte. Er hatte keine Wahl mehr - entweder er verriet die Kasalinsskaja, oder er nahm den Diebstahl auf sich. Man hatte ihn, den Jüngsten der Ärzte, ausgefragt, weil er am ängstlichsten und weichsten war.

»Ich bitte Sie, auch mir für eine Woche das Brot zu entziehen«, sagte er leise.

»Nein.« Worotilow trat näher und beugte sich über den jungen Arzt. Ein Geruch von Juchtenleder, Machorka und Schweiß strömte von ihm aus. »Ich müßte Sie bestrafen, Doktor, weil Sie so wenig Vertrauen haben. Sie dürfen mich nicht mit Markow verwechseln.« Er richtete sich auf. Der beißende Geruch verlor sich etwas. »Ich will gar nicht wissen, woher Sie das Penicillin hatten. Aber ich rechne auch mit Ihrer Verschwiegenheit in anderen Dingen. Sie sind Arzt... Sie kennen doch keinen Unterschied bei Ihren Patienten.«

Dr. Schultheiß wandte ihm den Kopf zu. »Was haben Sie vor, Herr Major.«

»Sie werden mit mir nach Stalingrad fahren. Und Sie werden dort jemanden untersuchen, der mir sehr nahesteht.«

»Eine Frau?« fragte Dr. Schultheiß ahnungsvoll.

»Ja. Dr. Kresin behandelt sie, aber er riet mir, Sie hinzuzuziehen.« Worotilow sah Dr. Schultheiß aus seinen kleinen dunklen Augen scharf an. Es war wie eine letzte Musterung beim Kauf eines Pferdes. »Es wird niemand erfahren, wo Sie hinfahren, Doktor«, sagte er mehr wie zu sich selbst. »Auch nicht Dr. Böhler.«

»Nein, Herr Major.«

»Wenn Sie sie gesund machen, können Sie von mir haben, was Sie wollen.« Ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Nur nicht die Freiheit.«

Dr. Kresin schaltete das Licht ein. Die Nacht war über das Lager hereingebrochen. In einer der Baracken hörte man das Brüllen Leutnant Markows. Ein warmer Wind kam von Westen und trieb den Staub durch die Lagerstraßen. Es roch nach Erde und Rauch, als habe in der Nähe ein Wald gebrannt.

»Morgen früh fahren wir«, sagte Worotilow laut. »Dr. Kresin wird Sie abholen.«

AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:

Wenn diese Nacht doch bald vorüber wäre.

Der Oberfähnrich schläft, endlich schläft er. Auf seinen eingefallenen Wangen und in den Augenwinkeln liegen noch die Tränen. Seine Brust wird von Schluchzen geschüttelt. Vor einer halben Stunde schaute die Kasalinsskaja hinein und gab mir eine große Ampulle Morphium für ihn. Noch immer ist der Leib stark aufgetrieben und hart.

Aber jetzt schläft er, ruhig und gleichmäßig geht sein Atem. Der Puls ist fast normal, und das ist es, was mich stutzig macht.

Vor einer Stunde noch lag er hier und weinte. Er hatte meine Hand ergriffen, und ich hielt seine heißen, zuckenden Finger und beugte mich über ihn. In seinen Augen lag die nackte Angst, sie starrten mich übergroß an, geweitet in grauenhaftem Entsetzen.

»Muß ich sterben, Doktor?« schluchzte er. »Muß ich denn wirklich sterben? Ich bin erst 23 Jahre alt.«

»Wer sagt denn, daß du sterben mußt?«

»Ich fühle es. Mein Leib ... mein Leib .es ist wie Feuer! Als wenn man ihn ausbrennt.«

»Wir haben dich operiert. Du hattest einen dicken, vereiterten Blinddarm, den haben wir dir weggeschnitten. Und jetzt wird alles gut.«

Er faßte wieder nach meiner Hand. »Ich werde sterben«, flüsterte er, während ich seine aufgesprungenen Lippen mit einem feuchten Lappen kühlte, denn trinken durfte er ja nichts. »Es wird meine Buße sein . meine Buße.« Seine Stimme verlosch, in seine Augen trat jener weite Blick, der mich erschrecken läßt, wenn ich ihn sehe.

»Du hast doch mit deinen 23 Jahren nichts zu büßen«, sagte ich tröstend.

»Ich war feig!« Er schrie es mit solcher Heftigkeit heraus, daß ich zurückprallte und Mühe hatte, ihn auf sein Lager zurückzudrücken.

»Mit 19 kam ich von der Kriegsschule ... aus Potsdam und Eberswalde. Als Oberfähnrich nach Stalingrad . drei Monate Frontbewährung, dann war ich Offizier, ein junger Leutnant, auf den mein Vater stolz gewesen wäre. Ich ging hinaus nach Rußland und warf mich in den Dreck von Stalingrad. Ich wollte tapfer sein, ich wollte in Ehren heimkehren. Und ich übernahm eine Kompanie und grub mich an der Traktorenfabrik ein. Dann trommelten sie . sie trommelten Tag und Nacht . ohne Unterbrechung, ohne Stillstand, ohne einmal Atem zu schöpfen . sie trommelten, Meter um Meter pflügten sie den Boden um, sie ließen nichts aus .sie trommelten aus Tausenden Geschützen, und dann stürmten sie . wie Ameisen, erdbraun gefärbt, krochen sie aus den Löchern und Bunkern, aus den Trümmern und verbogenen Stahlgerüsten. Uuuuurääääh schrien sie . dieses schreckliche Uuuuurääääh, das bis ins Mark geht. Tataren und Mongolen, Kirgisen und Kalmücken . sie stürmten auf uns zu und schrien beim Laufen, während unsere Maschinengewehre sie umtobten. Ich lag in meinem Loch, meine silbernen Litzen leuchteten, ich war ja Oberfähnrich und Kompanieführer . sie blickten auf mich. Ich aber lag in meinem Loch und hatte Angst, hundsgemeine Angst! Wissen Sie, Doktor, was Angst ist? Wenn man nicht mehr atmen kann, wenn das Herz aussetzt, wenn der Puls rast? Und dort kam der Russe, der keine Gefangenen macht und den Verwundeten die Augen aussticht. Wir haben es ja geglaubt, wir Jungen von der Kriegsschule, wir Abiturienten, die wir nur die Silbertressen sahen, aber nicht, was dahintersteckt. Und nun kamen sie auf mich zu. Hunderte von diesen braunen Teufeln, und sie kamen näher, immer näher. Da habe ich die Arme hochgehoben . ich, der Oberfähnrich Graf Burgfeld, der Kompanieführer . ich habe die Arme hochgehoben und vor Angst geschrien, während neben mir ein MG stand mit 10.000 Schuß Munition. 10.000 Schuß! Und sie kamen heran wie die Figuren auf einem Schießplatz, ich brauchte nur abzudrücken, und sie fielen um. Aber ich tat es nicht, ich konnte es nicht . ich schrie vor Angst und hob die Arme hoch. Ich, der Kompanieführer . aber ich war erst 19 Jahre alt.« Er warf