»Das ist eine menschenunwürdige Unterkunft!« sagte er laut. »Man sollte sich schämen.«
Der Oberst hob bedauernd die Schultern. »Genosse Professor, wir wissen es. Aber wir können es nicht ändern!«
»Wo ist der Deutsche?«
Der Oberst faßte einen Rotarmisten am Ärmel. »Wo ist der deutsche Arzt? Der kranke?!«
Der Soldat rannte voraus. Pawlowitsch und der Oberst folgten. Hinter ihren Rücken schrie der Hauptmann noch immer mit dem jungen Leutnant herum. Gaffend standen die Wachmannschaften auf den Türmen. Sie waren froh, außerhalb dieser gespannten Atmosphäre zu sein.
In der Baracke blieb Pawlowitsch stehen. Der beißende Uringeruch schlug ihm entgegen. Fahl, halbdunkel lag der große Raum vor ihm. Die Betten, dreistöckig, die schmutzige Wäsche, der Geruch nach Schweiß und Kot. Er sah sich zu dem Oberst um, der steif hinter ihm stand. »Das ist eine Bestialität«, sagte er, »ich schäme mich, Russe zu sein.«
»Genosse Professor!« rief der Oberst entsetzt.
Pawlowitsch trat an das Bett Sellnows. Peter Buffschk saß bei ihm und wischte ihm mit einem schmutzigen Lappen immer wieder den Schweiß von der Stirn. Als er die Russen kommen sah, stand er auf und stellte sich in strammer Haltung neben den Kranken.
Pawlowitsch beachtete ihn gar nicht. Er beugte sich über Sellnow, zog dessen Augenlider hoch, fühlte den Puls, holte sein Stethoskop aus der Tasche und horchte das Herz ab. Dann griff er nach rückwärts, suchte in seiner Aktentasche nach einer Ampulle, zog eine Spritze auf und injizierte. Er mußte dreimal stechen, ehe er die dünne Vene traf.
Dann saß er neben dem deutschen Arzt und schüttelte den weißen Kopf. Er prüfte wiederholt die Arm- und Beinreflexe, hob die Augenlider hoch und ließ Licht in die Pupillen fallen. Schließlich erhob er sich und nahm den stumm danebenstehenden Oberst zur Seite. Mit seinen dürren, faltigen Fingern strich er sich über die Oberlippe.
»Schlimm«, sagte er, »sehr, sehr schlimm! Die Vergiftung ist nicht die Hauptsache ... ich fürchte, der Deutsche hat einen Hirntumor. Viel deutet daraufhin. Ein Hirntumor ... schlimm, sehr schlimm.« Er sah den Oberst schräg nach oben an. »Wir werden den deutschen Arzt rufen müssen. Diesen merkwürdigen >Arzt von Stalingrad<!«
Pawlowitsch verließ den Raum und kämpfte sich durch den Schneesturm zu der Baracke zurück, wo der junge Leutnant ängstlich zusah, wie der Hauptmann die Lagerbücher und Tagesrapporte prüfte.
»Kann man telefonieren?« fragte der Professor. Der Leutnant nickte und holte einen Apparat herbei. Er stellte ihn auf den Tisch und fragte: »Welche Nummer?«
»Das Lager 5110/47 Stalingrad.«
»Die Nummer kenne ich nicht.«
»5629 über Stalingrad-Division, Apparat 45«, brummte der Hauptmann. Dann beugte er sich wieder über die Rapporte.
Pawlowitsch bekam seine Verbindung. Eine Stimme meldete sich: »Division Stalingrad.«
»Apparat 45, bitte.«
»Wer ist dort?«
»Genosse Taij Pawlowitsch.«
»Kenne ich nicht.«, sagte die Stimme aus Stalingrad.
Pawlowitsch sah sich verblüfft nach dem Oberst um. Er schüttelte den weißen Kopf. »Da ist einer, der kennt mich nicht.«, sagte er völlig ratlos. Daß es einen Menschen in Rußland gab, der Taij Paw-lowitsch nicht kannte, brachte ihn völlig aus dem Konzept. Der Oberst griff nach dem Hörer und winkte dem Professor ab. »Hier Oberst Wadislav Sikolowitsch - sofort Apparat 45, du Rindvieh!«
Es knackte in der Leitung, dann rauschte es eine Zeitlang, bis sich die Stimme Leutnant Markows meldete: »Hier Lager 5110/47, Leutnant Piotr Markow.«
»Oberst Sikolowitsch, Generalstab. Sofort den Kommandanten!«
Leutnant Markow legte den Hörer hin und drehte sich zu Wor-otilow um, der sich am Ofen aufwärmte. »Ein Oberst möchte Sie sprechen, Major. Aus dem Generalstab.«
Worotilow ergriff den Hörer und vernahm plötzlich die Stimme Pawlowitschs. Sie war erregt und überschlug sich - aber Worotilow verstand, worum es ging. Er sah Markow der neben ihm stand, bedeutungsvoll an und legte nach einem kurzen »Ich werde es ausrichten« den Hörer hin.
»Sellnow hat einen Tumor im Gehirn«, sagte er leise. »Pawlowitsch will ihn operieren. Im Lager 53/4, weil er nicht transportfähig ist. Und Dr. Böhler soll auch hinkommen.«
»In das Straflager?« Leutnant Markow rieb sich das Kinn. »Wenn das in Moskau bekannt wird.«
»Sie brauchen nur das Maul zu halten, dann ist alles gut!« Worotilow zog seinen Mantel wieder an - er war noch naß von der Fahrt. »Wo ist Genosse Dr. Kresin?«
»Mit Genossin Kasalinsskaja bei den Untersuchungen.«
»Und Dr. Böhler?«
»Verbindet gerade. Ich habe gesehen, wie frisch Verbundene aus dem Lazarett kamen.«
»Die Nachricht wird ihn umwerfen«, sagte Worotilow leise.
Markow lächelte. »Den? Nein. Den wirft so schnell nichts um. Der ist zäher als unser Mittagsfleisch.«
Drei Stunden später, nach langen Gesprächen zwischen Worotilow und Pawlowitsch, fuhr eine Autokolonne aus dem Lager 5110/47 in Richtung Saratow. Im ersten Wagen saßen Worotilow, Dr. Böhler und Dr. Kresin, im zweiten Emil Pelz, der Sanitäter, Martha Kreutz und Erna Bordner, die beiden deutschen Schwestern, und ein russischer Wachleutnant. Im dritten Wagen lagen eine Bahre, eine große Kiste mit chirurgischen Instrumenten und Verbandsmaterial. Dr. Schultheiß stand am Tor, als die Wagen hinausfuhren in den wirbelnden Schnee, in den heulenden Sturm, der über die Steppe fegte und die Bäume bog. Hinter ihm, unter dem Schutz des Daches der Kommandantur, lehnte die Kasalinsskaja und weinte.
Sie trommelte mit den Fäusten gegen die dicken Bohlen der Barackenwand ... sie hatte das Gefühl, alles um sich herum zerreißen zu müssen. Dr. Kresin hatte ihr befohlen, im Lager zu bleiben - sie hatte gebettelt und gefleht, getobt wie eine Irrsinnige, sie hatte alles Zerbrechliche in ihrem Zimmer zerschlagen, Dr. Kresin geohr-feigt, einen Schreikrampf bekommen ... der russische Arzt blieb fest. »Ich will zu ihm!« hatte sie geschrien und an die Tür getrommelt, als Dr. Kresin sie einschloß, sie wollte aus dem Fenster springen . aber es war zugefroren und ließ sich nicht aufreißen. Erst als die Wagen abfuhren, öffnete man ihre Tür.
Und der Schneesturm heulte um das Lager. Die Wachttürme wurden wieder geräumt. Rußland versank in der tobenden Natur. Die Steppe schrie . Schnee . Schnee . Schnee.
Er deckte die einsamen drei Wagen auf der Straße nach Saratow zu. Sie kämpften gegen den Sturm, gegen den Schnee, gegen das Eis der Straße. Sie kämpften gegen den Wind und die flatternde Schneewand. Weit auseinandergezogen fuhren sie jetzt . die Wolga, links von ihnen, war unsichtbar . nur graue, wirbelnde Massen, nur Einsamkeit, Öde, Unendlichkeit... die erbarmungslose Natur.
Der dritte Wagen mit den Medikamenten und chirurgischen Instrumenten blieb in einer Schneeverwehung stecken. Die Fahrer und die beiden Rotarmisten stiegen aus und begannen zu schaufeln. Aber der Schnee war stärker . seine Massen warfen sich über sie . sie bedeckten den Wagen und die einsamen vier Männer mit den kleinen Schaufeln in den Händen.
Keiner merkte es . die beiden ersten Wagen fuhren weiter . wenn man zurücksah, war ja doch nur Schnee. Nur weiter . weiter.
Sie kamen durch einen Wald, der bis an die Wolga reichte. Die Bäume lagen auf der Straße ... entwurzelt vom Sturm, gebogen vom Frost. Die Steppe, der Atem Sibiriens siegte. Man umfuhr sie, man drückte den Wagen aus einer Schneeverwehung heraus . weiter . weiter.
Dicht aufgeschlossen folgten Wagen Nummer 2 ... der dritte Wagen wurde zu einem Schneehaufen, in dem die vier Russen saßen und Machorka rauchten. Sie warteten eine Pause des Sturmes ab.
Nach sechs Stunden stießen die beiden Wagen aus dem Wald . sechs armselige Holztürme standen im Sturm: das Lager 53/4.
Die Helfer für Sellnow kamen ohne Medikamente, ohne chirurgische Werkzeuge, ohne alles! Nur der Mensch kam . der nackte, kleine Mensch. Dr. Kresin, Dr. Böhler, Worotilow . zwei Schwestern, ein Sanitäter . der Mensch mit bloßen Händen gegen den Tod!