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Professor Pawlowitsch stand am Fenster, als die beiden Wagen ins Lager rollten.

Er atmete auf. Noch ahnte er nicht, wie grausam diese Stunde war.

Dr. Böhler, dachte er. Daß die Deutschen diesen Arzt haben, macht sie reich.

Als Dr. Böhler aus dem Wagen stieg, ging ihm Pawlowitsch durch den Sturm entgegen.

VIERTES BUCH

Major Worotilow saß am Bett Sellnows und starrte ihn aus großen, verstörten Augen an. Emil Pelz wusch den Kranken mit aufgetautem Schnee . die Brust war eingefallen, über die Knochen spannte sich wie dünnes Leder die Haut.

Professor Pawlowitsch saß mit Dr. Böhler im Hintergrund der Krankenbaracke und raufte sich die weißen Haare. Er schrie mit dem jungen Lagerführer herum und drohte, die Fahrer des dritten Wagens vor ein Kriegsgericht stellen zu lassen. »Suchen!« brüllte er. »Schicken Sie Leute aus! Ich muß den Wagen haben! In ihm sind alle Medikamente und Instrumente! Der Wagen muß heran!«

»Es ist schwerer Schneesturm«, sagte der Leutnant schüchtern. »Es ist unmöglich, den Wagen jetzt zu finden. Wir kämen alle um, Genosse Professor.«

Dr. Kresin lehnte an der rohen Holzwand. Er spürte, wie der Schnee selbst hier durch die kleinste Ritze getrieben wurde. Fröstelnd raffte er seine dicke Pelzjacke enger um den Körper.

»Eine Schweinerei, wie sie größer nicht sein kann«, sagte er in seiner respektlosen Art. »Wir sind hier« - er lachte laut - »und müssen zusehen, wie ein Kollege stirbt! Untätig sehen wir zu. Sehr interessiert, wie ein Gehirntumor ihn umbringt. Wir haben nur die bloßen Hände, und das ist weniger, als wenn wir überhaupt nicht gekommen wären! Wie dumm, schwach, überheblich und im Grunde idiotisch der Mensch doch ist!«

Er senkte die Stimme. Erschütterung ergriff ihn, als er hinüber auf das Lager Sellnows blickte. »Ich werde das in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Niemals, Genossen!«

Der tatarische Greis wandte sich an Dr. Böhler. »Sie stimmen mir in der Diagnose bei?« fragte er.

»Ja, sicher, ein Tumor oder ein Abszeß, mehr kann man nicht sagen. Jedenfalls besteht Hirndruck, die Symptome sind unverkennbar. Wenn wir operieren könnten, würden wir ihn vielleicht noch retten.«

Professor Taij Pawlowitsch schloß die geschlitzten Augen. »Ich werde die Mannschaft des dritten Wagens nach Moskau melden«, murmelte er. »Sie haben einen Mord begangen.«

»Die Natur war stärker«, sagte Major Worotilow vom Bett her. »Wir haben Glück gehabt. Ihnen ist vielleicht eine Achse gebrochen, oder sie sind in einer Verwehung steckengeblieben. Keiner ist dafür verantwortlich. Das Schicksal ist gegen uns.«

»Das Schicksal!« Pawlowitsch wischte mit der Hand durch die Luft. »Das einzige Schicksal, das ich anerkenne, ist der Tod! Und ihm habe ich oft genug gegenübergestanden!« Er erhob sich. Seine Greisen-gestalt war gebeugt. »Kommen Sie, Genossen«, sagte er stockend. »Gehen wir hinaus. Es ist mir unerträglich, bei einem Sterbenden zu sitzen, dem ich helfen könnte.«

Er wollte die Klinke der Innentür herabdrücken, als ein Flackern durch den Raum ging. Die Glühbirnen zitterten - dann erlosch das Licht. Völlige Dunkelheit lag in der Baracke. Nur von dem eisernen Ofen her zuckte ein dünner Streifen Licht über den Dielenboden.

»Was ist das?!« schrie Dr. Kresin.

»Das Licht ist weg.« Der junge Leutnant ließ ein Streichholz aufflammen. »Der Schneesturm hat die Leitung heruntergerissen. Wir werden jetzt vierzehn Tage kein Licht haben. Ich kenne das.«

»Auch das noch!« stöhnte Worotilow. Er hatte sich vom Bett Sell-nows erhoben und stieß nun die Feuerklappe des Ofens auf. Matter Schein flackerte in einem kleinen Umkreis um die Stützbalken der Decke. »Lassen Sie sofort die Leitung absuchen, Leutnant!«

»Die Leitung führt über eine Strecke von sechzig Kilometern! Es ist eine Schwebeleitung. Wer weiß, wo sie zerrissen ist.«

»Aber wir können doch nicht ohne Licht sein!« schrie Pawlowitsch.

»Wir haben Petroleumlampen! Und wenn sie ausgehen, nehmen wir Kienspäne.«

»Das ist ja grausigstes Mittelalter!« brüllte Dr. Kresin.

»Das ist Rußland.«, sagte der junge Leutnant still.

Drei Wachsoldaten brachten die Petroleumlampen. Sie rußten und stanken. Es waren uralte Modelle aus der Zarenzeit und aus irgendeinem Bauernhof beschlagnahmt. Sie wurden an die Balken der Baracke gehängt und blakten durch die Stille, die jetzt in dem wei-ten Raum lag. Nur von draußen hörte man das Heulen des Sturmes. Worotilow sah Dr. Kresin an. »Nie habe ich den Winter so gehaßt wie heute«, sagte er leise.

Dr. Böhler saß auf dem Bett des sterbenden Sellnow und blickte ihn unverwandt an. Emil Pelz hielt eine Petroleumlampe hoch und leuchtete. Immer wieder glitten die Finger Dr. Böhlers über die Stirn des Kranken. Worotilow sah diesen Händen wie gebannt zu. Pawlowitsch kaute auf der Unterlippe und schnippte vor Nervosität mit den Fingern.

»Ich werde doch operieren«, sagte Dr. Böhler leise. »Wir werden einen entlastenden Eingriff machen.«

Pawlowitsch fuhr wie ein Geier hoch. »Sind Sie irrsinnig? Womit denn?«

»Mit meinen Händen.«

Dr. Kresin wurde es plötzlich heiß in seiner Jacke, er riß sie von der Schulter. »Böhler, Sie wissen nicht, was Sie da sagen! Das ist doch Blödsinn! Kein Licht, keine Instrumente, keine Narkosemittel.«

»Eine Narkose brauchen wir nicht... er wird nichts spüren ... und Licht haben wir. Pelz wird die Lampe nahe genug heranhalten . es muß genügen.«

Professor Pawlowitsch fuhr sich mit beiden Händen durch die weißen Haare. »Sie können doch nicht den Schädel öffnen.«, stotterte er.

»Ich muß. Es bleibt uns keine Wahl.« Dr. Böhler sah hinüber zu einem der SS-Ärzte, die wortlos auf ihren Pritschen hockten und zusahen. »Habt ihr einen Meißel da?« fragte er. »Einen einfachen kleinen Meißel, Jungs, und einen Drillbohrer, möglichst klein.«

Der eine Arzt nickte. Er schluckte, als er sprach. Das Ungeheuerliche, was er hier erlebte, raubte ihm fast die Besinnung.

»Wir haben bei den Werkzeugen Meißel und Bohrer, wie sie die Zimmerleute brauchen.«

»So einer genügt. Holt mir einen davon und einen Hammer. Und bringt Zwirn mit, einfachen Schneiderzwirn - und Nadeln.«

»Ja, Herr Stabsarzt«, stammelte der SS-Arzt. Gebückt, als habe man ihn geschlagen, verließ er schnell die Baracke. Doktor Kresin riß sich das Hemd auf. »Das ist Wahnsinn«, murmelte er.

Dr. Böhler erhob sich von den Knien. Auf der anderen Seite des Lagers stand Emil Pelz. Der Sanitäter hielt die Lampe hoch. Seine Hand zitterte.

»Angst, Emil?« fragte Böhler.

»Ja, Herr Stabsarzt.«

»Dann mach einen Operationstisch fertig ... nimm ein Bett und leg die Bodenbretter doppelt übereinander.« Er wandte sich zu den anderen, die auf den Betten hockten. In ihren Augen lag Entsetzen und Unglauben. Buffschk lehnte an seinem Strohsack und weinte leise vor sich hin wie ein Kind. »Ich brauche Koppel oder Riemen.«

Zögernd wurden ihm die Leibriemen gereicht. Emil Pelz nahm sie an und baute aus Brettern den Operationstisch. Pawlowitsch griff sich an den Hals. »Sie wollen wirklich?« flüsterte er.

»Ich muß, Herr Professor.« Dr. Böhler sah ihn an, seine blauen Augen waren glanzlos. Es war, als käme eine plötzliche, große Erschöpfung über ihn und raube ihm die Kraft des inneren Widerstandes. »Wollen Sie mir assistieren? Oder soll es Dr. Kresin machen?«

»Ich nicht!« sagte Kresin stotternd. »Ich kann das nicht.«

Der SS-Arzt kam zurück. Er war mit Schnee bedeckt, seine Ohren waren blaugefroren. In der Hand hielt er Hammer und Meißel und eine Rolle Zwirn. Außerdem brachte er vier Verbandspäckchen mit, eine Lage Mull und drei Platten Zellstoff. »Das ist alles, was im Revier noch war«, sagte er leise.

Dr. Böhler nickte. »Das ist mehr, als ich erwartet habe.« Pelz setzte ein Kochgeschirr mit Schnee auf den Ofen. Bald kochte das Wasser und in ihm die primitiven Instrumente. Pawlowitsch zog seinen Rock aus, krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und tauchte die Hände in eine Waschschüssel, die ihm ein Rotarmist reichte. Mit einem Stück billigster Kernseife, die nach Fisch roch, wusch er sich die Arme. Unterdessen trugen der SS-Arzt und Emil Pelz den Kranken auf den improvisierten Tisch und schnallten ihn in sitzender Haltung mit den Koppeln fest. Böhler goß das kochende Wasser aus, in dem er seine Instrumente sterilisiert hatte: ein Messer und zwei Pinzetten aus Pawlowitschs Tasche. Pelz rasierte den Kopf Sell-nows vollkommen kahl und wusch die Kopfhaut mit Wasser und Seife. Dann strich er sie über und über mit Jodtinktur an, die sich in der Tasche des Professors befunden hatte.