Ohne Zögern legte Böhler einige Schnitte bis auf den Knochen. Dann schob er die Kopfhaut an den Wundkanten zurück. Er ließ sich den Bohrer reichen, den der Professor eingespannt hatte, setzte die Spitze behutsam auf den freigelegten Schädelknochen und begann zu drehen, ganz vorsichtig. Er handhabte das plumpe Gerät mit einer Leichtigkeit, die ihn selbst erstaunte. Er bohrte ein halbes Dutzend Löcher in die Schädeldecke - entlang dem Schnitt, den er in die Kopfhaut gelegt hatte.
Dann nahm er den Meißel aus dem Topf. Der Professor beschäftigte sich mit der Wunde und tupfte die schwache Blutung weg. Pelz reichte den kleinen Hammer. Böhler setzte die Schneidekante des Meißels senkrecht in eines der kleinen Löcher, die durch die ganze knöcherne Hirnschale gingen. Mit leichten Schlägen trieb er die Schneide vorwärts, so zart wie möglich, mit genauso viel Kraft, wie unbedingt nötig war, um von einem Loch zum anderen eine schmale Rinne in das Schädeldach zu graben.
Major Worotilow wandte sich zur Wand und schloß die Augen, als der Meißel knirschend in den Knochen fuhr. Dr. Kresin hielt sich zitternd an einem Bett fest und starrte auf Böhlers Hände. Die beiden SS-Ärzte standen neben dem Operationstisch und hielten den Patienten. Emil Pelz leuchtete mit der Petroleumlampe. Seine Hand zitterte, und mit ihr zitterte der Schein des Lichtes.
Langsam, Millimeter für Millimeter, fraß sich der Meißel in den Knochen. Von Zeit zu Zeit setzte Böhler ab und betrachtete forschend das Gesicht seines Patienten. In Abständen meldete ihm einer der beiden deutschen Ärzte den Puls, und Professor Pawlowitsch spülte mit einer Injektionsspritze, die er mit abgekochtem Wasser füllte, Knochensplitterchen aus der Wunde. Dann tupfte er das Wasser sorgfältig fort.
Kein Laut war in der Baracke, bis auf das metallische Geräusch, mit dem der Hammer auf den Meißel schlug. Ab und zu noch ein aufquellendes Stöhnen des Ohnmächtigen.
Hier vollzog sich das Wunder einer Hirnoperation, von der man später in allen Lagern erzählte, in denen deutsche Gefangene lebten. Ihr Ruf drang nach Moskau bis in den Kreml zu den roten Herrschern und auch nach Deutschland - Dr. Böhler vorauseilend und seinen Namen unauslöschlich mit der Geschichte der Gefangenen von Stalingrad verknüpfend.
Nach einer knappen Viertelstunde legte der Chirurg den Hammer aus der Hand. Er hatte aus der Schädeldecke ein etwa rechteckiges Stück Knochen ausgemeißelt, das aber an einer Seite noch mit dem Schädelknochen verbunden war. Vorsichtig setzte er jetzt die Schneide des Meißels unter das Knochenstück und hebelte es an, indem er den Rand des Schädelknochens und eine unterlegte Mullkompresse als Stütze benutzte. Das wiederholte er an mehreren Stellen, bis das abgetrennte Stück leicht über der Oberfläche stand. Nun trat er zurück und ging zum Waschständer. Sorgfältig wusch und schrubbte er noch einmal seine Hände. Dann ging er wieder zum improvisierten Operationstisch und griff nach der teilweise losgelösten Knochenplatte. Mit einigen leichten Rucken hob er sie an, und ein leises Krachen verkündete, daß sie an der Seite, an der sie noch mit dem übrigen Schädeldach zusammenhing, losbrach. Nun konnte Böhler die Platte, die noch immer mit der zu ihr gehörigen Kopfhaut verbunden war, zurückschlagen. Der Zugang zum Gehirn lag durch ein Tor von der Größe einer Zigarettenpackung frei da.
Das Gehirn pulste leise. Es wölbte sich in die Öffnung vor.
»Haben wir etwas Morphium?« fragte Böhler den Professor. »Es besteht die Gefahr, daß er erwacht, jetzt, wo der Hirndruck nachläßt.«
»Keine Angst wegen der Atmung?« fragte der Professor zurück.
Böhler zuckte die Achseln. »Was bleibt uns übrig«, sagte er gepreßt.
Der Professor nickte. »Morphium ist außer den Analeptika das einzige, was ich da habe. Pelz, bringen Sie aus meiner Tasche eine Ampulle Morphium.« Und zu einem der SS-Ärzte gewandt: »Vielleicht machen Sie die Injektion.«
»Intravenös«, setzte Böhler hinzu, »ganz langsam spritzen, bitte.«
Der SS-Arzt injizierte in eine Vene der Ellenbogenbeuge. Gleich darauf tastete Böhler zart die Oberfläche des Gehirns ab.
»Ich fühle hier eine Resistenz«, sagte er zu den anderen, »es ist, glaube ich, ein Abszeß. Ich werde punktieren. Reichen Sie mir eine starke Kanüle, die stärkste, die wir haben.«
Pelz reichte ihm das Gewünschte mit einer Pinzette, und Böhler stach die Nadel in das Gehirn. Gelber, dicker Eiter drang hervor.
»Ich werde den Abszeß ausschneiden«, sagte Böhler ruhig. Alle sahen ihn überrascht an. Wie wollte er mit den wenigen Instrumenten, über die er verfügte, einen so schwierigen Eingriff durchführen? Schon die Entlastungsoperation hatte an der Grenze des Möglichen gelegen - mitten aus dem Gehirn jedoch einen Abszeß auszuräumen und seine Kapsel ausschneiden - das schien unter den gegebenen Umständen unmöglich.
Aber niemand widersprach.
Mit dem kleinen Messer schnitt Böhler in die Hirnhäute ein und arbeitete sich mit Hilfe eines blechernen Eßlöffels an den Abszeß heran, der dicht unter der Oberfläche lag. Es gelang ihm, die Kapsel des Geschwürs ohne Blutung auszulösen und zu entfernen. Dann klappte er die knöcherne >Falltür< mit der Haut daran zurück und machte die Hautnaht.
Fertig.
Der Patient atmete ruhig, und sein Puls war besser als bei Beginn der Operation. Nach einer Stunde lag er schon wieder in seinem Bett - so lange hatte die Operation gedauert. Pelz, die beiden deutschen Ärzte und Buffschk lösten sich bei der Pflege ab. Sie ließen ihn keine Sekunde aus den Augen.
An der Tür stand Professor Pawlowitsch und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß aus dem Gesicht. Die Augen von Dr. Kresin strahlten; er rang nach Worten. Worotilow lehnte bleich an der
Wand und schwieg. Neben dem Ofen wusch sich Dr. Böhler mit der nach Fisch stinkenden Kernseife Arme und Hände. Jetzt durften auch die beiden Schwestern in die Baracke, deren Betreten Paw-lowitsch vor Beginn der Operation verboten hatte. Martha Kreutz und Erna Bordner säuberten mit Schneewasser die Bretter und den Boden.
Vor der Baracke, über das flache Land an der Wolga, über das Dorf Nishnij Balykleij und das Lager, über die Niederungen von Stalingrad bis Saratow heulte der Schneesturm. Er bog die Bäume, er tötete die streunenden Wölfe, er zerriß das Eis der Flüsse und ließ es sich auftürmen zu Bergen, er fegte die Erde glatt wie ein Leichentuch und riß Mensch und Tier mit sich weg.
Winter.
Winter an der Wolga.
Professor Pawlowitsch hockte in der kleinen Wachbaracke am Ofen und wärmte sich die Hände. »Der Kranke kommt nach Stalingrad«, sagte er. »Sobald der Sturm sich legt.«
Verlassen stehen die Türme des Lagers, die Baracken liegen im Schnee vergraben. Am Ufer der Wolga irren die Wölfe und schreien gräßlich, ehe sie vor Frost sterben. Ihr Fleisch ist hart wie Eisen . die anderen hungrigen Wölfe fressen es nicht . ihre Zähne bluten. Es gibt nichts mehr als den Sturm.
Drei Wochen später geschah die Sache mit der Kokosnuß.
Eine Sensation war in das Lager 5110/47 eingezogen: Nach dem Abebben des Sturmes und dem Übergang des Schneefalls in Frost, der das Land zu einer riesigen Eisfläche machte, kamen neue Transporte aus Stalingrad in das Lager. Lastwagen, gefahren von dick vermummten, in Schafpelzen steckenden Plennis, brachten neben Verpflegung - Hirse, Fleisch, Fett, trockenem Salzfisch, Hefe, Brot und dem unvermeidlichen Kohl - auch eine Ladung Pakete.