Pakete aus der Heimat! Die ersten Pakete seit Jahren!
Worotilow stand dieser Sendung zuerst hilflos gegenüber. Er hatte weder aus Moskau noch von der Division in Stalingrad Befehl erhalten, diese Pakete auszugeben, noch wußte er, mit welchen Sicherheitsmaßnahmen und Vorsichtsmaßregeln die Ausgabe vor sich gehen sollte. Das alles wurde sonst von Moskau durch einen Befehl geregelt, und dieser Befehl war ausgeblieben. Ohne Befehl aber handelt kein russischer Soldat. Bleibt er aus, ist er der Verlassenste unter allen Menschen. Denn wie man es auch macht - wenn nachher die Direktiven aus Moskau eintreffen, war es bestimmt falsch.
Die Pakete wurden also vorerst in der Kommandantur gestapelt und genau gezählt, namentlich aufgenommen und registriert. Leutnant Markow übernahm diese Arbeit mit Hans Eberhard Möller als Schreiber. So wurde es im Lager wie ein Lauffeuer bekannt, daß 482 Pakete aus der Heimat bei Worotilow lagerten, durchschnittlich zehn Kilo schwer . Pakete mit Essen, mit Lebensmitteln, mit seit Jahren entbehrten Dingen.
482 Pakete zu je zehn Kilo.
Das sind 4.820 Kilo.
Das sind 9.640 Pfund.
96,4 Zentner.
Durch das Lager ging ein Zittern, ein Raunen, eine Erregung. Wir sind nicht vergessen! Man denkt an uns! Man liebt uns noch . uns, die einsamen Plennis an der Wolga. Wir gehören noch zu den Menschen.
Major Worotilow telefonierte mit der Division in Stalingrad. In Stalingrad wußte man ebenfalls nichts als die Tatsache, daß Moskau mit der Zentralpost auch die Pakete durchließ und sie an die Divisionslagerleitung weiterschickte. Es mußte also im Interesse Moskaus liegen, die Pakete auszugeben, folgerte man. Natürlich mußten alle Büchsen und jede Ware genauestens kontrolliert werden. Die Pakete könnten also nur einzeln ausgegeben werden - und erst nach peinlichster Untersuchung.
Major Worotilow hängte ein und sah Dr. Kresin an, der eine Schale chinesischen Tee schlürfte.
»Ich gebe die Pakete morgen aus«, sagte er. »Markow wird die Untersuchung mit zehn Mann übernehmen.« Er sah aus dem Fenster auf das weite Lager und die schwarzen Gestalten, die sich auf dem vereisten Schnee bewegten. »Ich gönne es ihnen, Sergeij.«
Beim Mittagsappell wurden die Namen derer verlesen, die ein Paket bekommen hatten. Am Abend noch einmal für die, die aus der Stadt und den Außenkommandos von der Arbeit kamen. Ausgabe morgen früh nach dem Frühstück. In Gruppen zu je zehn Mann. Für die Arbeitskommandos am Abend nach dem Appell.
Eine Welle der Freude überflutete das Lager. Die Genannten benahmen sich wie Kinder vor dem Weihnachtsfest. sie schliefen in dieser Nacht überhaupt nicht . sie wanderten in der Baracke herum, erzählten von ihren Angehörigen, schwelgten in dem Vorgenuß und starrten in den Himmel.
Am Morgen, nach dem Zählappell, standen sie Schlange vor der Kommandantur. Leutnant Markow brüllte mit alter, gesunder Lautstärke. Er ordnete erst pedantisch die Reihen, ehe er die Tür öffnete und die ersten zehn eintreten ließ.
An einem langen Tisch standen zehn Rotarmisten vor den Paketen, die jetzt vor den Augen der Plennis geöffnet wurden.
Das Packpapier knisterte. Dann der Karton. Der Deckel war verschnürt... die Bindfäden wurden durchschnitten. Der Deckel hob sich.
Büchsen. Tüten. Plattenfett. In Zellophan, Pergament, braunem Fettpapier.
Die Russen staunten. Sie standen vor einem Märchen. Sie drehten die Büchsen in den Händen und klopften mit den Knöcheln gegen das Weißblech.
Die zehn Plennis strahlten. Sie aßen bereits mit den Augen . sie schluckten den Speichel hinunter und wischten die Hände an den Hosen ab. Sie schwitzten vor Erregung.
Mit Seitengewehren und einigen beigelegten Büchsenöffnern wurden die Konserven geöffnet. Rindfleisch im eigenen Saft. Corned beef. Schmalzfleisch. Bohnen mit Speck. Apfelmus. Erdbeermar-melade. Aprikosengelee. Apfelkraut. Johannisbeergelee.
Die Rotarmisten aus den Steppen Sibiriens glotzten. Eine neue Welt tat sich vor ihnen auf. eine unbekannte, große, herrliche Welt des Wohlstandes und des Genusses. Sie schnupperten an den offenen Büchsen und verdrehten die Augen.
»Ich gebben hundert Papyrossis für Büchse.«, sagte einer leise.
»Du kannst mich hundertmal am Arsch lecken!« war die Antwort. Man nahm es nicht übel . die Deutschen waren reich . die Plennis waren sehr reich ... sie hatten zu essen, besser als Genosse Stalin im Kreml und Genosse Kommissar im schmutzigen Stalingrad. Die Plennis.
Leutnant Markow überflog die zehn geöffneten Pakete, die Büchsen, die Tüten, deren Inhalt offenlag. Plötzlich stutzte er und trat zu einem Paket hin, das Peter Fischer erhalten sollte. Inmitten des Blechs und Zellophans lag ein runder, brauner Gegenstand. Er sah aus wie eine haarige Kugel, fühlte sich an wie Holz, gluckerte beim Schütteln und war leicht.
Eine Kokosnuß.
Leutnant Markow hob die Augenbrauen und schob die Unterlippe vor. Woher soll ein russischer Leutnant aus der Steppe eine Kokosnuß kennen? Er ergriff den merkwürdigen, den verdächtig runden, leichten, holzigen und haarigen Gegenstand und schüttelte ihn. Es gluk-kerte. Wahrhaftig, es gluckerte. Das Ding war hohl, und in dem Ding war etwas, das an die Wände schlug.
»Was ist das?!« brüllte Markow Peter Fischer an.
Der Plenni grinste. »Ein Elefantenei«, sagte er höflich.
»Was?!«
»Ein Elefantenei!«
Die neun anderen Plennis grinsten breit. Leutnant Markow bemerkte es und wurde rot.
»Aufmachen!« schrie er. »Dawai!«
Peter Fischer zuckte mit den Schultern und klopfte an die harte Schale. »Es geht nicht«, sagte er. Dabei machte er ein trauriges Gesicht.
Leutnant Markow stutzte einen Augenblick, dann riß er einem
der Rotarmisten ein Seitengewehr aus der Hand und setzte es an. Der Stahl glitt an der harten Schale der Kokosnuß ab und haarscharf neben der haltenden Hand in den Tisch. Die Plennis grinsten breiter. Peter Fischer sagte sogar: »O weh!«
Leutnant Markow wurde aschgrau. Er blickte um sich, sah auch seine Soldaten grinsen und steigerte sich in einen Anfall von Wut.
»Beil her!« schrie er. »Ein Beil!«
Aus der Küche brachte ein Rotarmist eine Axt. Draußen, auf dem Hof, standen die langen Schlangen der wartenden Plennis. Es hatte sich herumgesprochen, was im Inneren des Hauses vor sich ging, und der Kampf Leutnant Markows mit der Kokosnuß wurde eines der klassischen Erlebnisse der Gefangenschaft, die man nie vergaß.
Die Axt in der Hand, sah Markow die Nuß an. »Was ist das?!« schrie er noch einmal Peter Fischer an. Aber er wartete die Antwort gar nicht ab - er schlug zu, mit aller Wucht. Die Nuß klaffte auseinander, und die Kokosmilch lief klebrig über den Tisch. Verblüfft betrachtete Markow das Innere. Weißes, festes Fleisch, appetitlich duftend - er roch daran und betastete es. »Kann man essen?« fragte er erstaunt.
Peter Fischer nickte. »Ja.«
»Warum nicht sagen gleich?« schrie Markow auf. Er warf die Axt in eine Ecke und schob Fischer das Paket zu. »Nächster!« schrie er.
Es ging jetzt schnell und reibungslos. Die Kokosnuß lag Markow im Magen. Über das, was er nicht kannte, sah er jetzt hinweg, immer bemüht, sich nicht noch einmal vor aller Augen zu blamieren. Er ließ sogar eine Büchse Marmelade durchgehen, ohne sie mit einem langen Fleischmesser zu sondieren - das war ein Glück, denn in der Büchse lag ganz unten eine kleine Metallkapsel, und in dieser Kapsel befand sich ein kurzer Brief. Seine Auffindung hätte eine Sperre aller Pakete nach sich gezogen. Aber Markows Laune war verdorben, so daß ihn nicht einmal mehr die kleinen Schikanen, wie das Auseinanderbrechen der Tafeln Schokolade oder das Aufwickeln von Bonbons, reizen konnten.
Am Abend, nach der Ausgabe der letzten Pakete an die Arbeitskolonnen, brach Festtagsstimmung im Lager aus. In den Baracken saßen die Plennis und kauten oder rauchten. Kolonnen waren unterwegs und tauschten. Zigaretten gegen Kaffee, Kakao gegen Butter, Marmelade gegen Puddingpulver und Kondensmilch. Am regsten war der Betrieb bei dem großen Tor, wo die biederen Rotarmisten alles eintauschten, um einmal deutsche Konfitüre oder deutsche Kekse zu bekommen. Und Schokolade. Heilige Mutter von Kasan . wo gab es in Archangelsk Schokolade.?