Ein Wunderpaket hatte Peter Fischer bekommen. Nicht allein, daß er mit seiner Kokosnuß die Ordnung im Lager aus den Angeln gehoben hatte - er fand zwischen allen anderen Lebensmitteln auch einige Tüten von Eiermanns Schnellpudding.
Eiermanns Schnellpudding ist ein schönes Ding. Man schüttet das Pulver in Wasser, rührt herum und schwupp - ist der Pudding fertig! Ohne Kochen, ohne Milch, ohne Zucker. Eiermanns Schnellpudding schaffte das . er war ein Wunder der Nahrungsmittelchemie. Auf der Tüte stand groß: Kein Kochen! Kein Anbrennen mehr! Wohlschmeckend, gesund und kräftigend!
Peter Fischer, der immer noch dem musikalisch sehr unbegabten Michail Pjatjal Trompetenunterricht erteilte und dafür von ihm Fleisch und Fett erhielt, ließ es sich nicht nehmen, Eiermanns Schnellpudding dem Küchenleiter persönlich vorzuführen.
Es war am gleichen Abend. Pjatjal nuggelte an seiner Trompete, als Peter Fischer mit dem Paket Schnellpudding in der Küche erschien. Er holte sich eine Schüssel und eine Kanne Wasser und stellte sie vor Pjatjal hin.
»Weißt du, was das ist?« fragte er und ließ Pjatjal und dann Bascha an der Tüte riechen. Pjatjal grinste dumm.
»Pudding!« meinte er. »Milch ist da! Und Zucker auch! Wollen wir ein Puddingchen machen, Genosse Plenni?«
»Ja.« Fischer nickte. »Aber ohne alles! Nur kaltes Wasser!«
»Brüderchen, du bist verrückt«, sagte Pjatjal gönnerhaft. »Das gibt es nicht.«
»Nicht in Rußland. Aber in Deutschland, Genosse! Das ist das
Neueste! Paß einmal auf..«
Peter Fischer goß Wasser in die Schüssel. Dann schüttete er den Inhalt der Tüte hinein, nahm einen Quirl und verrührte das Pulver in dem Wasser.
Eiermanns Schnellpudding machte seinem Namen alle Ehre. Das Wasser wurde gelb, es wurde sämig, es wurde dick - und siehe da: der Pudding stand steif und goldgelb. Zur Bekräftigung schüttelte Fischer die Schüssel etwas und ließ den Pudding wackeln.
Michail Pjatjal riß die Augen auf. Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Pudding . er starrte Bascha an, die sprachlos und mit weitgeöffnetem Mund danebenstand ... er tippte wieder auf Eiermanns Wunderpudding und schüttelte immer wieder den Kopf.
»Pudding!« sagte er erschüttert. »Richtiger Pudding! Kosten!«
Er stach sich etwas ab und aß es. Er schmatzte und sah Peter Fischer mit glänzenden Augen an. »Sehr gut, Brüderchen. Ein Pudding!« Er nahm die noch halbvolle Tüte hoch und roch an dem Pulver. »Was ist das?« fragte er.
»Pudding«, sagte Peter Fischer. »Deutscher Arbeiterpudding.«
»Was?«
»Deutscher Arbeiterpudding! Das kann sich bei uns in Deutschland jeder Arbeiter leisten! Das ist eine Volksspeise!« Er lächelte. »Wann hast du den letzten Pudding gegessen, Michail?«
»Vor vier Jahren.«, seufzte Pjatjal. »Und ich bin doch auch ein Arbeiter! Und mein Bruder auch! Der arbeitet in Stalingrad auf dem Bau. Der hat noch nie Pudding gegessen.«
»Er lebt ja auch nicht in Deutschland! Bei uns essen das alle! So ein Pudding kostet keine zwanzig Pfennig! Rund zehn Kopeken!«
»Du lügst!« schrie Pjatjal. »Zehn Kopeken?! Das ist ja geschenkt!«
»Für den Arbeiter wird in Deutschland alles getan ... auch ohne Kommunismus! Sieh dir den Pudding an.«
»Gib her!« Pjatjal nahm eine andere Schüssel, schüttete Wasser hinein, schüttete das Pulver hinterher ... rührte ... der gleiche, geheimnisvolle Vorgang vollzog sich wieder vor seinen verblüfften Augen ... das Wasser färbte sich, es wurde sämig, dick, erstarrte. Der
Pudding wackelte goldgelb in der Schüssel. Ein köstlicher Pudding! Der deutsche Arbeiterpudding, wie Peter Fischer sagte. Es lebe Eiermann!
Michail Pjatjal nahm die Schüssel und stellte sie weg. »Ich werde es meinem Bruder zeigen«, sagte er schwach vor Erregung. »Und er wird es seinen Kollegen zeigen. Hast du noch mehr Tüten?«
»Noch drei Stück.«
»Gib sie mir, Brüderchen. Ich muß es allen Leuten zeigen! Zehn Kopeken für solch einen Pudding! Das ist unglaublich.«
An diesem Abend blies er keine Trompete mehr. Er aß mit Ba-scha den Schnellpudding und rollte sich dann satt und grunzend in sein Bett. Irgendwie war durch Eiermanns Schnellpudding eine Bresche in seine bolschewistische Lebensauffassung geschlagen worden, irgendwie begann er an dem System, dem er diente, Kritik zu üben. Denn nichts überzeugt einen Menschen mehr als das gute Essen der anderen. Und wenn es ein Pudding mit Wasser ist. Mit kaltem Wasser . das verklärte alles noch mehr und machte das deutsche Wunder noch wunderbarer.
Mit der Ausgabe dieser ersten Pakete begann auch im Lazarett ein anderes Leben. Da nur eine Minderzahl aus der Heimat Lebensmittel erhalten hatte, rief Dr. Böhler zur Spende für die Kranken und Verletzten auf. Er selbst stellte sein Paket vollständig zur Verfügung und verteilte den Inhalt in genau abgewogenen Mengen unter die Kranken und vor allem die schwachen und Unterernährten. Sein Aufruf, der nur aus einer kleinen Anregung bestand, die er zu Dr. Schultheiß sagte, fand im Lager sofort Gehör. Aus jeder Baracke liefen die Lebensmittel im Lazarett ein. Es häuften sich die Tüten Kakao, die Tafeln Schokolade, das weiße Mehl, die Marmeladebüchsen, die Keksdosen, die Fleischkonserven, die Kondensmilch, die Päckchen mit Tabak. Sogar sieben Pfeifen wurden gebracht und eine Kiste Zigarren.
Die Barackenältesten lieferten die Waren ab und sprachen nicht viel dazu. Es war selbstverständlich nach so vielen Jahren russischer Gefangenschaft, daß den Kranken und Ärmsten geholfen wurde, und Dr. Böhler notierte sich jedes eingehende Päckchen und führte ge-nau Buch. So erhielten die Kranken jeden Tag zehn Gramm Fett mehr, ein oder zwei Riegel Schokolade, ein wenig Marmelade auf das glitschige Brot und ab und zu eine Suppe aus Puddingpulver mit verdünnter Büchsenmilch.
Den Hauptteil des Paketes von Dr. Schultheiß bekam Janina Sal-ja. Sie wollte es zwar nicht, und Jens mußte ihr den Kakao und die dicken Butterbrote förmlich aufdrängen, und als sie sich immer noch weigerte und ihn bat, es selbst zu essen, verordnete er ihr Sonderkost und ließ sie ihr durch Schwester Ingeborg Waiden verabreichen.
Sie reichte bei keinem lange, diese Zusatzverpflegung, denn zehn Kilo sind schnell verbraucht und nur ein kurzer Komet am dunklen Himmel des Hungers, aber diese zehn Kilo wirkten sich aus in der Moral der Plennis, in der Steigerung der Kraft des Hoffens und in der Arbeitswilligkeit und Leistung.
Major Worotilow sah darin einen schönen Anlaß, an Hand eines Berichtes an das Generalkommando diese Tatsachen aufzuzählen und um weitere Paketsendungen zu bitten. Und da es ein offizieller Bericht war, eine dienstliche Meldung, konnte man sie in Stalingrad nicht unter den Tisch fallenlassen, sondern war gezwungen, die Worte des Majors an die Zentrale nach Moskau weiterzuleiten. Dort aber gingen von allen Lagern gleichlautende Meldungen ein: Hebung des allgemeinen Standards, Erhöhung der Arbeitskraft. Erfüllung des Solls, Steigerung der Moral und damit auch natürlich des Gesundheitszustandes, wenn.
In Moskau fanden Beratungen statt. Immer wieder gewann der Plan einer völligen Umstellung der Gefangenschaft Gestalt: Der Plan, aus den Kriegsgefangenen Strafgefangene zu machen, sie lebenslänglich zu verurteilen, zu langjährigen Strafen zu begnadigen und so rechtlich die Möglichkeit zu schaffen, sie in Rußland zu behalten - als Verbrecher zu behalten -, ihnen aber andererseits alle Vergünstigungen zu geben, die einem Justizgefangenen zustehen und die seine Arbeitskraft für das Wohl der Sowjets heben.
Der Plan 1950 war geboren! Der große, völkerrechtswidrige Plan, der Tausende deutscher Plennis an Rußland kettete.
Plan 1950! Er wurde ausgelöst durch eine Welle von Verhören und eine Sintflut von erdbraunen Uniformen mit den Zeichen der Po-litruks, eine Sturmflut des MWD, die sich in die Lager ergoß und alles verurteilte, was nach Ansicht der Ärzte arbeitsfähig war und Rußland noch jahrelang nützlich sein konnte.