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Ein Schauspiel sollte beginnen, grotesk wie eine Komödie, tragischer als eine griechische Tragödie und seelenlos wie jede abstrakte Konzeption: die >Einordnung< der deutschen Plennis in das Staatsgefüge der Sowjetrepublik.

Noch aber ahnte niemand diese Entwicklung - vor allem nicht Major Worotilow, als er seinen schönen Bericht schrieb und um mehr Pakete bat.

Dr. Böhler baute sein Lazarett weiter aus, indem er Dr. Schultheiß mit Dr. Kresin nach Stalingrad gehen ließ, um dort in einer Apotheke Betäubungsmittel gegen einige Fleischkonserven einzutauschen. Das mußte geheim getan werden, es war Sabotage am staatlichen Eigentum. Aber im Angesicht der Fleischbüchsen fiel auch der Leiter der Stalingrader Staatsapotheke um.

Die Kasalinsskaja befand sich seit der Operation im Straflager von Nishnij Balykleij wie in einem Trancezustand. Da sie nichts wieder von Sellnow hörte und alle Anfragen in Stalingrad ergebnislos blieben, nahm sie das Schlimmste an und verstieg sich zu der Behauptung, Dr. Böhler habe seinen Freund umgebracht.

»Sie hätten ihn nicht operieren dürfen!« wimmerte sie. »Mit einem Meißel! Er mußte sterben.«

»Ohne die Operation wäre er bestimmt gestorben!« Dr. Böhler ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Die Ungewißheit nagte auch an ihm, wenn er es auch nicht so öffentlich zum Ausdruck brachte wie die Kasalinsskaja, die sich von dem Tage der Operation an weigerte, weiterhin die Plennis zu untersuchen. »Ich tue es nicht mehr!« hatte sie Dr. Kresin angeschrien. »Ich kann es nicht! Ich habe jahrelang wie ein Schwein an diesen Menschen gehandelt, ich habe sie ausgesogen, ich habe sie ins Elend getrieben - ich kann nicht mehr! Ich will von alledem nichts mehr sehen!«

Dr. Kresin hatte ihr nicht geantwortet - aber er hatte sie auch nicht gemeldet. Er verschwieg den Vorfall und zeichnete die täglichen Gesundheitsrapporte zur Hälfte mit dem Namen der Ärztin ab, damit man in Stalingrad keinen Verdacht schöpfte. Niemand wußte es, nicht einmal Major Worotilow.

Über Sellnow wußte man nur soviel, daß er nicht mehr im Lager Nishnij Balykleij war. Er war vier Tage nach der Operation von einem staatlichen Krankenwagen abgeholt worden, ohne die Besinnung wiedererlangt zu haben. Wie Buffschk berichtete, war der Wagen nicht nach Süden, sondern nach Norden gefahren. Man nahm deshalb an, daß sich Sellnow gar nicht in Stalingrad, sondern in Saratow befand, was sehr verwunderlich stimmte und zu allerhand Vermutungen Anlaß gab.

»In Saratow sitzt der Stab des MWD«, sagte Worotilow dumpf, als man diese Nachricht bekam. »Und in Saratow hat auch Paw-lowitsch keine Gewalt mehr über ihn.«

»Ich werde nach Saratow fahren und ihn suchen!« rief die Kasalinsskaja wild. »Ich werde ihn finden! Und wenn ich jedes Krankenhaus mit Gewalt stürmen müßte! Ich muß zu ihm!«

Dr. Kresin sah den Plan der Militärärzte im Südabschnitt der Armeegruppe durch und schüttelte den Kopf. »In Saratow ist ein Dr. Sedowkowitsch der Leiter der staatlichen Klinik! Ich kenne Se-dowkowitsch nicht - er muß ein junger Arzt sein.«

»Ein Parteiarzt?« fragte Dr. Böhler.

»Selbstverständlich. Ohne Partei bekommt er keine Stellung in einer staatlichen Klinik!«

»Und Professor Pawlowitsch weiß auch nicht, wohin man Sellnow gebracht hat?« fragte die Kasalinsskaja erregt.

Dr. Kresin nickte nachdenklich. »Pawlowitsch schweigt. Er ist wie eine völlig ausgetrocknete Mumie! Wenn man ihn wegen Sellnow anruft, hängt er einfach wieder ein. Es muß etwas Unvorhergesehenes geschehen sein.«

Die Kasalinsskaja saß starr in ihrem Sessel. Sie blickte hinaus über die verschneite Steppe und die tief herabgebogenen Wälder an der

Wolga. Auf den Wachttürmen rauchten die Posten. Jenseits der Straße, im metertiefen Schnee, wateten Kolonnen von Plennis. Es waren die Holzkommandos, die in den Wäldern das Brennmaterial für die Barackenöfen zusammensuchten. Zehn Gefangene kehrten die Einfahrt am großen Lagertor. Leutnant Markow stand vor der Kommandantur und rauchte Pfeife. Er wurde grinsend von der Seite betrachtet, denn seine Pfeife war deutschen Ursprungs - er hatte sie eingetauscht gegen ein Küchenmesser. Bei keinem wäre das aufgefallen - aber Markow mit einer deutschen Tabakspfeife! Man kam aus entfernten Blocks zum Lagertor geschlendert, unter irgendeinem Vorwand, nur um dieses Schauspiel zu sehen.

»Wenn Sellnow nicht wiederkommt, werde ich gehen!« sagte die Kasalinsskaja dumpf.

»Gehen? Wohin?« Worotilow schüttelte den Kopf.

»Nach Westen! In die Freiheit!«

Dr. Kresin zog die Augenbrauen zusammen. »Sie reden wirr, Genossin! Sie werden nie über die Grenze kommen!«

»Ich werde!« sagte die Kasalinsskaja fest.

»Und dann?«

»Dann werde ich in alle Winde schreien, wie es wirklich aussieht bei Mütterchen Rußland. Dann werde ich hassen können, wie nie ein Mensch gehaßt hat!«

Major Worotilow erhob sich. Er war blaß, fahl, fast krank sah er aus. »Man hat seit 1919 versucht, uns Russen die Seele zu töten, uns zu einer Maschine der Partei zu machen, zu einem Zahnrad im Gefüge der Republik. Aber die russische Seele lebt. Es ist schrecklich, sie zu sehen . denn wir haben die Jahrzehnte umsonst gelebt . sinnlos gelebt.«

Er verließ das Zimmer und ging durch den Schnee zur Kommandantur. Dr. Kresin sah ihm nach. Er schüttelte den Kopf. »Jetzt hat es den auch gepackt! Verdammt noch mal - wie froh bin ich, wenn erst alle Deutschen wieder aus Rußland heraus sind.«

Die Kasalinsskaja drehte sich zur Wand und weinte. Sie weinte jetzt häufig. Sie war nur noch ein Schatten der ehemaligen Kapitänärz-tin Dr. Alexandra Kasalinsskaja, die schimpfend durch die Lager schritt und gesund schrieb, was herumkroch.

Über den Wäldern begann es wieder zu schneien.

Eine weiße, kleine Krankenstube. Ein Eisenbett, ein großes Fenster, mit einer bunten Übergardine verhangen, mit Linoleum ausgelegter Boden, ein Tisch mit Medikamenten, ein Waschbecken in der Türecke, vor dem Bett ein weißbespannter Schirm, eine Art spanischer Wand. Neben dem Bett ein weißlackierter Stuhl. Auf ihm saß eine junge, schwarzhaarige Schwester mit einem breiten, fast mongolischen Gesicht und kleinen, grünen Augen. Sie las in einem Buch und blickte nur ab und zu auf, wenn der Kranke sich im Bett unruhig herumwarf oder mit den gelbweißen Händen die Bettdecke strich.

Das Zimmer Sellnows. In der Staatsklinik von Stalingrad. Auf der Privatstation Professor Taij Pawlowitschs.

Niemand außer den wenigen Eingeweihten wußte, daß Sellnow in dieser Klinik lag. Zu der Handvoll Wissender gehörte die mongolische Schwester, ein junger Stationsarzt, der Oberarzt und ein Krankenpfleger. Das Zimmer lag am Ende eines kleinen Flures, der sonst nur die drei Laborräume beherbergte, in denen Pawlowitsch seine Versuche unternahm. Es war ein Flur, den kein anderer in der ganzen Klinik betrat, der als ein unantastbares Heiligtum betrachtet und gemieden wurde.

Eben hatte Pawlowitsch das Herz abgehorcht. Er maß den Blutdruck, den Puls, sah die Fieberkurven nach und injizierte Cordalin. Dann machte der junge Assistent mit einem fahrbaren Röntgenapparat noch einmal eine Aufnahme des Kopfes, während sich Pawlowitsch nachdenklich an das Bett setzte.

»Die Operation scheint gelungen zu sein«, sagte er zu dem Oberarzt, der in der weißen Tür lehnte und über die spanische Wand blickte. »Mit einem primitiven Meißel und einfachem Schneiderzwirn. Die Deutschen wagen alles. Ich hätte es nicht gewagt!«

»Der Deutsche hatte nichts zu verlieren«, meinte der Oberarzt. Es war ihm unangenehm, daß sein Chef sich selbst erniedrigte. »Und er hat eben Glück gehabt. Bei einem zweiten Fall könnte es gerade das Gegenteil sein. Nur ein Glücksfall, Herr Professor.«

Pawlowitsch nickte nachdenklich. Er beobachtete den Assistenten, wie er den Röntgenapparat zur Seite fuhr und der Schwester die belichtete Platte gab, damit sie sofort entwickelt würde. Er beugte sich etwas vor und deckte Sellnow wieder bis zum Hals zu.