»Wir wissen noch nicht, wie das Gehirn reagiert. Noch zeigt der Körper keinerlei Reflexe, die darauf schließen lassen, welche Gefühlszentren gestört sind.« Pawlowitsch strich sich durch den weißen Bart und dann über die kleinen, schrägen Augen. »Wenn nur die Besinnung wiederkäme! Wenn er nur sprechen würde - falls er überhaupt noch sprechen kann. Wenn er nur ein paar Regungen zeigte! Sein Dauerschlaf beunruhigt mich.«
Der Oberarzt kam hinter der spanischen Wand hervor und hob die Schultern. »Man hat schon wieder aus dem Lager 5110/47 angerufen und nach Sellnow gefragt. Die Genossin Kasalinsskaja.«
»Und was haben Sie gesagt?«
»Ich habe wie immer abgehängt.«
Professor Taij Pawlowitsch nickte zustimmend. »Hängen Sie immer ab, wenn man anfragt«, sagte er. Er erhob sich und blickte noch einmal auf den Kranken, der besinnungslos und ohne Regung in den Kissen lag. »Ich brauche diesen Mann da. Ich muß an ihm studieren und ihm noch einmal den Schädel öffnen, um zu sehen, was in ihm vorging!«
Seine Augen leuchteten auf. Der Fanatismus eines heidnischen Priesters stand darin. Die kleine, verdorrte Gestalt straffte sich, und aufrecht ging er an dem Oberarzt und dem Assistenten vorbei aus dem Raum. Die Schwester sah ihm groß nach. In ihr mongolisches Gesicht trat ein Zug von Grauen. Sie schob die bespannte Wand wieder vor das Bett und sah den Oberarzt an.
»Er weiß nicht, wie er ihn heilen kann«, sagte sie leise. Dabei blickte sie zur Tür. Jeder wußte, wer >er< war.
Der Assistent nickte. »Wir wissen es alle nicht, Schwester.«
»Dann muß er ja sterben.«
»Im Mütterchen Rußland sterben täglich Tausende.« Der Oberarzt drehte sich um. Während er seinen Mantel zuknöpfte, klinkte er die Tür auf. »Wenn er gestorben ist, dieser Sellnow, rufen Sie uns sofort, Schwester. Er kommt dann gleich in die Anatomie. Der Chef fiebert darauf, ihn zu sezieren.«
Die Tür klappte. Sie waren allein: die mongolische Schwester und der sterbenskranke deutsche Plenni Dr. Werner von Sellnow. Noch schlug das Herz. Leise, zögernd, fragend, ob es noch einen Sinn habe. Die Hände zuckten über das Bett.
Die Schwester nahm ihr Buch wieder auf. Einen Roman. Die Lo-fotfischer, hieß er. Ein Roman aus der Feder eines treuen Kommunisten. Ein Stempel war auf dem Titelblatt des Buches, ein rundes Siegeclass="underline" Bibliothek der sowjetischen Armee.
Die Lofotfischer. Ein Roman aus dem Leben braver Männer. Ausgezeichnet mit dem Nationalpreis.
Die kleine Mongolin las Seite um Seite. Aber sie verstand nicht, was sie las. Sie dachte nur: Er wird sterben. Pawlowitsch wartet darauf, daß er stirbt. Er wird ihn fleddern wie ein Geier, der eine Leiche zerreißt. Wie die Geier am Rande der Steppe und in den Bergen nahe der Großen Mauer im weiten China.
Wenige Tage nach der ersten Paketaktion Moskaus begannen die Verhöre durch den MWD.
Ganz plötzlich waren sie da, die Kommissare, die Major Worotilow mit einer bisher unbekannten Ehrfurcht grüßte. Selbst die Kasa-linsskaja und Dr. Kresin bemühten sich heran und wurden den Männern vorgestellt, die jetzt vollzählig - es waren zwölf - vor der Kommandantur standen. Groß, gut genährt, in sauberen, neuen Uniformen, mit flachen Mützen auf den runden Schädeln, mit Augen, die musternd über das Lager streiften.
Dr. Böhler stand am Fenster des Lazaretts und wandte sich zu Dr.
Schultheiß um, der den Küchenzettel aufstellte - unter Berücksichtigung der Paket-Sonderverpflegung. »Der Tod kommt ins Lager«, sagte er leise.
Dr. Schultheiß zuckte zusammen und stellte sich neben seinen Chef. »MWD«, flüsterte er.
Die Tür wurde aufgerissen. Dr. Kresin trat ein, sah die deutschen Ärzte am Fenster stehen und lachte rauh.
»Nette Kerle, was?« sagte er laut und warf die Tür hinter sich zu. »Kommen aus Moskau! Direkt aus Moskau! Große Untersuchung auf Herz und Nieren! Und dann geht es ab!«
»Ab? Wohin?« Dr. Böhler war bleich geworden. Er ahnte etwas Ungeheures, etwas nie Geglaubtes, etwas bisher nur Geträumtes. »Wohin?« wiederholte er noch einmal, und seine Stimme war heiser. »Sagen Sie es, Dr. Kresin!«
»In eure Heimat!« Der russische Arzt setzte sich schwer.
»In die Heimat!« stotterte Dr. Schultheiß. Er wandte sich plötzlich ab. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Auch Dr. Böhler lehnte sich erschüttert an die Wand und blickte starr an die Decke.
»In die Heimat.«, sagte er leise. Seine Stimme schwankte. »Ist das sicher, Dr. Kresin?«
»Ja! Zuerst eine Portion Offiziere und alle Invaliden, soweit sie geh-und transportfähig sind. Der erste Zug ins Entlassungslager Moskau soll schon im Frühjahr gehen, wenn der Schnee die Straßen freigibt.«
»Nach sieben . nein, dann sind es acht Jahre!« Doktor Böhlers Lippen zuckten. »Wir sollen wirklich Deutschland wiedersehen?«
»Ja!« schrie Dr. Kresin. »Und dann geht ihr weg, ihr alle, und wir leben hier weiter in dem Mist, müssen uns ducken, haben keinen, mit dem man vernünftig sprechen kann - wir bleiben bei Mütterchen Rußland und verfaulen, weggeworfener Kapusta! Wir haben uns so an euch gewöhnt, an die Plennis, an diese hundsverfluchten Deutschen, daß uns etwas fehlt, wenn ihr wieder weg seid! Gott verdammt noch mal!«
Böhler legte Kresin die Hand auf die Schulter. Er wußte, was der große mächtige Mann im Innern litt. »Kommen Sie doch nach, Kre-sin«, sagte er leise.
»Nach Deutschland? Nein! Ich bin Russe, ich liebe mein Land. Ich bin Bolschewik. Im Alter kann man nicht mehr umschwenken wie ihr Jungen, die der Fanfare nachlaufen, die am lautesten bläst. Ich werde hier vermodern, an der Wolga oder in Sibirien, in der Steppe, der Taiga, der Tundra, am Eismeer - wer weiß es außer Moskau? Es ist mein Los. Und ihr geht hinaus in die Freiheit.« Er erhob sich schwer und wandte sich ab. »Das ganze Leben ist Mist!« sagte er grob. Dann ging er so plötzlich, wie er gekommen war, und knallte die Tür zu.
Dr. Schultheiß drehte sich um. Tränen standen in seinen großen, blauen Kinderaugen. »Wir werden entlassen«, stammelte er. »Ich werde die Mutter wiedersehen und den Vater, den Bruder, die Schwester. Herr Stabsarzt . ich werde sie alle wiedersehen.« Plötzlich begann er zu schluchzen und legte den Kopf auf die Schulter des Chefs. Dr. Böhler strich ihm über die blonden Haare.
»Bleib jetzt stark, mein Junge«, sagte er leise und väterlich. »Wir haben so lange auf diesen Augenblick gewartet, und -«, er stockte, »wir wissen noch nicht einmal, ob es wirklich wahr ist.«
Keiner wußte es im Lager 5110/47. Selbst Major Worotilow nicht, der am Abend mit den Kommissaren in seinem Zimmer saß, Wodka trank, Zigaretten rauchte und die Listen des Lagers durchsah. Mühsam, jeden Plenni genau überdenkend, strich er die Nummern derjenigen an, die er zur Entlassung vorschlug. Leutnant Markow gab gehässige Kommentare dazu, die Worotilow überhörte, aber einer der MWD-Leute sich heimlich notierte.
»Wir dürfen aus Ihrem Lager, Genosse Major, 362 Mann entlassen«, sagte der MWD-Oberst während der Zählung.
Worotilow sah erstaunt auf. »Nicht mehr?«
»Die anderen Lager müssen auch berücksichtigt werden. Zudem müssen wir haushalten, weil wir für den neuen Siebenjahresplan noch Arbeitskräfte brauchen. Und die Deutschen sind gute Facharbeiter, die wir nicht missen können. Die vier Transporte für den Frühling sollen massiert in der deutschen Sowjetzone ankommen, um dem Westen gegenüber als Propagandaschlag zu wirken. Der amerikanische Außenminister Marshall macht uns Schwierigkeiten. In der UNO hat man nach dem genauen Stand der deutschen Gefangenen gefragt. Wir werden im Frühjahr die Massenentlassungen über Frankfurt/Oder leiten, um dann sagen zu können: Das sind alle Plen-nis! Die anderen, die noch in Rußland bleiben, sind Verbrecher!«
»Verbrecher?« Worotilow schüttelte den Kopf. »Sie haben doch nichts getan, die anderen Tausende.«
»Das wird sich zeigen!« Der MWD-Oberst grinste breit. Er war ein Ukrainer und deshalb bemüht, durch Schärfe das Mißtrauen zu zerstreuen, das man in Rußland allen Ukrainern entgegenbringt. »Für die zurückbleibenden Verbrecher werden wir sorgen!«