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Worotilow schwieg. Er sah die anderen Offiziere an, er sah Markow zufrieden lächeln. Da beugte er sich wieder über seine Listen und strich weiter an.

Dr. Böhler, Dr. Schultheiß, Dr. von Sellnow, der noch immer als zum Lager gehörend geführt wurde. Emil Pelz - Worotilow räumte das ganze Lazarett. Er wollte alle Brücken abbrechen und nicht schuldig sein an dem Verbrechen, das Moskau befahl. Im Frühjahr würde er dann fort sein - er würde sich versetzen lassen, irgendwohin, und wenn es zur Kampftruppe war. Nur kein Gefangenenlager mehr, nur nicht mehr Kommandant eines umzäunten Friedhofes sein, nur nicht mehr mitschuldig sein an der Not Tausender.

Zwei Tage später trat Major Worotilow in den Operationsraum des Lazaretts. Hinter ihm schob sich die hagere Gestalt eines der MWD-Kommissare herein, flankiert von Leutnant Markow und einer schlanken, dunkelblonden Dolmetscherin. Dr. Schultheiß, der am Sterilisationsapparat stand, sah erschrocken auf.

Dr. Böhler beugte sich über eine Gestalt auf dem Operationstisch und legte mit ruhigem, sicherem Griff einen Kopfverband an. Pelz reichte ihm eine Sicherheitsnadel, um die Binde festzustecken. Dann erst wandte sich der Chirurg um und blickte die Versammlung von

Russen fragend an.

»Der MWD«, sagte Worotilow verlegen, »interessiert sich für Ihre Arbeit, Doktor. Die Genossen möchten das Lazarett des Lagers 5110/47 besichtigen - und seinen berühmten Chefarzt.«

Der Patient auf dem Operationstisch blickte ängstlich von Dr. Schultheiß zu Emil Pelz und vermied es, die Russen anzusehen. Er zuckte zusammen, als sich die Tür erneut öffnete und ein halbes Dutzend weiterer Kommissare hereinkam.

Die Dolmetscherin wandte sich an Dr. Böhler. »Der Genosse Leutnant«, sagte sie und wies auf Markow, »hat uns von der Wunderkur erzählt, mit der Sie ihn gerettet haben.« Markow grinste verlegen. »Moskau hat das erfahren. Nun.«, sie blickte fragend auf den hageren Kommissar, der ihr bestätigend zunickte, ».unsere Arbeit ist beendet. Die Listen sind abgeschlossen und gehen heute abend nach Moskau zur Bestätigung. Aus dem Lager 5110/47 werden 362 Kriegsgefangene nach Deutschland entlassen. Ich bin ermächtigt, Ihnen mitzuteilen, daß auch Dr. Schultheiß und Sie darunter sind. Moskau weiß, was es einem echten Arzt schuldig ist.«

Dr. Böhler fühlte, wie es heiß in ihm aufstieg. Ich, dachte er. Ich werde auch entlassen! Worotilow hat mich vorgeschlagen! Ich sehe meine Frau wieder, Köln, die Heimat. Das Grauen Rußlands geht von mir, die Einsamkeit, das Warten. Ich werde die Wälder an der Wolga nicht mehr sehen, die Holzklötze nicht, unter denen die toten Kameraden begraben liegen, die Türme nicht mehr, die Rotarmisten, die Tellermützen, die Kapustasuppe, das glitschige Brot und die Handvoll Hirse. Alles wird vorüber sein, was acht Jahre lang der Inhalt meines Lebens war. Ich werde ein freier Mensch sein. Endlich! Endlich!

Einer der Kommissare war an den Tisch getreten, wo Emil Pelz eben die Krankenkarte des frisch Verbundenen in die Kartothek zurückstecken wollte, und hatte sie ihm aus der Hand genommen. Er wechselte einige Worte mit einem seiner Kollegen, während sie beide immer wieder auf eine Stelle der Karte wiesen. Dann trat er mit drei schnellen Schritten an Böhler heran, und eine rasche, russische

Frage schoß dem Arzt entgegen. Er verstand ihren Sinn nicht, aber der drohende Ton war unverkennbar. Irgend etwas hatte das Mißfallen des Russen erregt.

»Was bedeuten diese beiden Buchstaben?« übersetzte die Dolmetscherin rasch. Böhler blickte auf die Stelle, die der Finger des Kommissars bezeichnete, und eine kalte Hand griff nach seinem Herzen. Er streifte den Patienten mit einem raschen Blick und versuchte auszuweichen.

»Das hat mit der Krankheit nichts zu tun«, sagte er hastig.

Worotilow wurde aufmerksam, trat einen Schritt näher und blickte auf die Karte. Nur mühsam konnte er sein Erschrecken verbergen. Ausgerechnet jetzt mußte dieser Idiot von Kommissar seine Nase in die Kartothek stecken.

Die Dolmetscherin lächelte hämisch. »Ich will Ihnen sagen, was diese beiden Buchstaben bedeuten: SS. Der Mann, den Sie hier verbinden, ist Mitglied der Mörderorganisation von Himmler!«

»Er ist ein Plenni«, sagte Dr. Böhler fest. »Ein Plenni wie jeder andere. Und ein Mensch, der Hilfe braucht.«

Während die Dolmetscherin übersetzte, dachte Worotilow fieberhaft nach. Er versuchte zu retten, was noch zu retten war! »Wie können Sie es wagen«, brüllte er Böhler an, »einen SS-Mann zu verbinden?! Mit dem kostbaren Verbandmaterial, das Eigentum der Sowjetunion ist?!«

Der hagere Kommissar deutete auf den weißbandagierten Kopf des Patienten.

»Verrband wegg!« sagte er kurz. Plötzlich konnte er Deutsch.

Dr. Böhler sah ihn ablehnend an. »Warum?« fragte er.

»Fragen Sie nicht!« brüllte Worotilow. Er war so verzweifelt, daß ihm fast die Tränen in die Augen traten. »Gehorchen Sie gefälligst, Sie deutsches Schwein!!!«

Dr. Schultheiß trat zu Dr. Böhler und legte ihm die Hand auf den Arm. »Herr Stabsarzt.«, begann er. Aber Worotilow ließ ihn nicht ausreden, »'raus!« schrie er ihn an. »Sie haben hier gar nichts verloren! Sie auch nicht, Pelz!« Um Gottes willen, dachte er dabei, jetzt bloß keinen Zeugen bei der kommenden Auseinandersetzung.!

Betreten trotteten Dr. Schultheiß und Emil Pelz hinaus. Ehe jemand anderer eingreifen konnte, wandte sich Worotilow wieder an Böhler. »Nehmen Sie sofort diesen Verband ab!« sagte er drohend -und lautlos formte er mit den Lippen ein flehendes »Bitte!«.

Dr. Böhler sah den Major nicht an. »Teilen Sie dem Herrn Kommissar bitte mit, daß für diesen Kranken ich verantwortlich bin -und nicht er!« sagte er zu der Dolmetscherin. »Der Verband ist lebenswichtig - und er bleibt.«

Kalte Wut leuchtete aus den Augen des Kommissars, als ihm dieser Satz übersetzt wurde. Er sprang an den Operationstisch und streckte die Hand nach dem Kopf des Patienten aus, um den Verband abzureißen. Mit einem einzigen Schritt stellte sich Dr. Böhler dazwischen. »Nicht, solange ich hier Chefarzt bin.«, sagte er fest.

Sekundenlang stand er Auge in Auge mit dem Russen. Dann lächelte der Kommissar höhnisch. »Hier Chefarzt?« sagte er langsam auf russisch. »Wenn Sie solchen Wert darauf legen ... dann können Sie es noch lange bleiben.« Er wandte sich achselzuckend ab. »Wir werden einen anderen auf die Liste setzen«, sagte er zu Worotilow, und man sah ihm an, mit welcher Genugtuung er diesen Befehl aussprach. »Wir können doch Hitlers Mordschergen die ärztliche Hilfe nicht entziehen.«

Major Worotilow trat in Böhlers Zimmer. Allein. Er schloß die Tür hinter sich. Er zögerte, ehe er sprach, aber dann klang seine Stimme hohl und gebrochen. »Verzeihen Sie«, sagte er, »aber ich wollte Ihnen helfen. Es wäre die einzige Möglichkeit gewesen, Ihre Entlassung zu retten.«

»Ich weiß.«, sagte Böhler dumpf. Dann sprang er auf und rannte erregt im Zimmer hin und her. »Aber ich kann doch einen Menschen nicht sterben lassen, hilflos und gequält - nur weil. Das geht doch nicht, Major! Das ist doch unmöglich!« Er blieb vor der rohen Wand der Baracke stehen und starrte auf die Ritzen der einzelnen Bretter, auf die abblätternde Farbe, auf die Glaswatte, die aus den Fugen quoll. Durch seinen Körper ging ein leises Zittern. »Ich kann doch einen Patienten nicht verraten«, sagte er kaum hörbar. »Ich kann doch nicht wegfahren und ihn dafür büßen lassen. Das geht doch nicht ... das geht doch nicht. Und überhaupt« - plötzlich stieg ein überwältigendes Gefühl der Verantwortung in ihm auf -»ich habe hier im Lazarett 54 schwere Fälle .in den einzelnen Blockrevieren liegen 73 Kranke, die nicht laufen können. Was sollen sie denken, wenn ich einfach weggehe nach Deutschland - und sie allein in der Einöde lasse.«

»Sie werden auch entlassen, wenn sie gesund sind.«

»Können Sie das garantieren, Major?«

Worotilow blickte auf seine Schuhspitzen. »Nein«, sagte er leise. »Soviel ich weiß, ist die Entlassung eine einmalige Propaganda-Aktion gegen den Westen. Wann die nächsten Entlassungen sind, weiß ich nicht.« Er sah auf und begegnete dem Blick Dr. Böhlers. »Ich habe geglaubt, Sie weinen vor Freude, daß Sie wieder in die Heimat kommen.«