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»Ich habe es gestern noch getan. Aber dann kam dieser unmenschliche Befehl des Kommissars, den ich niemals ausführen konnte. Damit waren alle Hoffnungen auf meine Heimkehr mit einem Schlage zerstört. Jetzt aber weiß ich in meinem Herzen, daß es so kommen mußte, denn ich trage die Verantwortung für diese armen Menschen, die hier krank herumliegen ... ich habe zwölf schwere chirurgische Fälle . einen Magendurchbruch, eine Gallenblasenresektion, zwei Fälle von Darmknickung infolge schwerer Arbeit bei Unterernährung, sieben schwere Furunkelfalle ... und den SS-Mann mit dem Schädelbruch. Soll ich sie allein lassen?!«

Worotilow sprang auf. Seine Wangen glühten. »Was soll das alles!« schrie er plötzlich. »Wollen Sie etwa hierbleiben? Wollen Sie mir sagen: Ich will nicht entlassen werden?! Ich will freiwillig in Rußland bleiben?! Ich will ein Plenni bleiben, weil ein paar Kameraden mich brauchen?!« Worotilows Stimme überschlug sich. »Sie wissen nicht, was noch kommt! Wer bleibt, wird verurteilt werden . lebenslänglich! Er verliert das Recht und den Schutz der Kriegsgefangenen und wird zum Verbrecher gestempelt! Es wird keine Plen-nis mehr geben, sondern nur noch Strafgefangene! Überlegen Sie sich das! Sie werden entrechtet sein wie kein anderer Mensch auf der Welt!«

Dr. Böhler atmete schwer. Er lehnte an der Wand und starrte hinaus auf den Schnee und die vereisten Wachttürme. Leutnant Markow marschierte am Zaun entlang und kontrollierte den Lagerdienst, der Schnee schippte.

»Sorgen Sie dafür, daß mit Schultheiß nichts mehr schiefgeht«, sagte Böhler tonlos. »Er ist jung, man hat ihn um die besten Jahre seines Lebens betrogen, er hat viel nachzuholen, er braucht die Freiheit, um das zu leisten, was in ihm steckt. Er ist ein guter, ein sehr guter Arzt. Deutschland braucht ihn.«

»Und Sie?!« brüllte Worotilow. »Ach, seien Sie still! Sie mit Ihrem deutschen Wahn von der Pflichterfüllung!« Er hieb mit beiden Fäusten auf den Tisch. »Ich verachte Sie, wenn Sie hierbleiben! Sie verleugnen Ihre Heimat, Ihre Frau, Ihr Kind. Sie handeln nicht heldisch, sondern verantwortungslos gegen die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen und seit acht Jahren auf Sie warten! Die nichts anderes kennen als den großen Glauben: er kommt zurück! Die an der Grenze stehen werden, wenn die ersten Transporte kommen und fragen: Ist Dr. Böhler dabei? Kennt einer von euch einen Dr. Böhler? Und dann wird man ihnen sagen: Ja, wir kennen ihn, er ist der Arzt von Stalingrad, und er blieb da! Denkt mal, er blieb da! Er blieb in der Hölle Rußland, in der Steppe an der Wolga - aus Pflichtgefühl, denkt mal an! Er stand schon auf der Liste, aber er wollte dableiben - darum wartet nicht an der Grenze, fahrt zurück nach Köln und beseht euch sein Bild. Er kommt noch lange nicht wieder -sein Gewissen hat es nicht zugelassen.«

Dr. Böhler wandte sich ab. Er trat ans Fenster und legte die heiße Stirn an die nasse, kalte Scheibe. »Sie vergessen, daß alles längst entschieden ist, Major«, stammelte er. »Kann ich den Vorfall ungeschehen machen - können Sie es?«

Worotilow öffnete die Tür mit einem Ruck. Fahl im Gesicht, drehte er sich um. »Sie haben es so gewollt. Werden Sie glücklich, Sie -Sie Held, Sie!«

Mit lautem Krach fiel die Tür zu.

Einen Augenblick stand Dr. Böhler starr am Fenster. Er schloß die Augen und spürte die Kühle der Scheibe durch seinen ganzen Körper dringen. Dann schwankte er und fiel ächzend auf den Stuhl neben dem Tisch. Sein Kopf sank auf die Platte. Er weinte haltlos.

Dr. Schultheiß machte die Visiten. Böhler hatte sich eingeschlossen und öffnete nicht, soviel man auch an seine Tür klopfte. Dr. Kresin rannte in seinem Zimmer auf und ab und wurde von Worotilow bewacht. »Ich schlage seine Tür ein!« schrie er immer wieder. »Ich schleppe ihn mit meinen Händen zum Wagen! Ich bringe ihn bis an die Grenze und schiebe ihn hinüber!«

Er war nicht der einzige, der an diesem Abend die Haltung verlor. In ihrem Zimmer lag Janina Salja auf dem Bett und weinte seit Stunden. Sie hatte durch Ingeborg Waiden erfahren, warum die Kommissare ins Lager gekommen waren. Überglücklich hatte das Mädchen es ihr gesagt: »Wir sollen entlassen werden! Wir alle! Es geht nach Deutschland! Nach Deutschland!« Sie war wie von Sinnen, die kleine Krankenschwester Ingeborg Waiden, sie tanzte durch das Zimmer und weinte und lachte in einem Atem.

Janina hatte einige Zeit gebraucht, um die Botschaft zu verstehen. Zu begreifen, daß die Stunde nahe war, in der sie Jens verlieren würde - für immer auf dieser Welt, denn zwischen Stalingrad und Deutschland war die Entfernung so weit wie zwischen zwei Sternen. Unendlichkeit, die keine Sehnsucht, keine Liebe, kein Wille bezwingen konnte.

Sie hörte, wie Jens die Visiten machte, wie sein Schritt von Zimmer zu Zimmer ging, und sie wartete darauf, daß er die Klinke ihres Zimmers niederdrücken und eintreten würde. Aber sein Schritt ging vorbei ... sie hatte sich aufgerichtet, als er sich näherte ... er ging vorbei . die Tür des Nebenzimmers klappte . er ging vorbei! Sie schrie auf und wühlte sich in die Kissen. Ich überlebe es nicht, schluchzte sie. Ich kann es nicht mehr ertragen! Es ist zuviel! Es ist zuviel! Es erwürgt mich, dieses Leben, es tötet mich.

An diesem Abend schrieb Dr. Fritz Böhler eine seiner monatlichen Kriegsgefangenenkarten. Er schrieb sie an seine Frau und sein Kind. Er schrieb, daß man im Frühjahr viele deutsche Gefangene entlassen werde, und daß er auch unter ihnen war. >War<, schrieb er und schilderte, wie es kam, daß er wieder gestrichen wurde. »Arzt sein«, schrieb er, »heißt Vorbild sein« und »es gibt Höheres als das eigene Ich: die Pflicht, Mensch zu sein«. Er beschrieb die kurze Karte mit engen Zeilen und winzigen Buchstaben, er schob sie fast ineinander, um Platz genug zu haben für seine Rechtfertigung. Und als er die Karte am Ende überlas, sah er, daß es doch nur Worte waren.

Er zerriß die Karte und warf sie fort. Schweigen, dachte er. Wenn die Transporte kommen, wird sie hoffen, und wenn sie die Namen hört, wird sie weiter warten. Warum ihr das Herz schwer machen? Und es würden wieder Transporte kommen, verteilt über Monate und Jahre, und einmal würde auch er dabeisein. Dann hatte er das ganze weitere Leben lang Zeit genug, sich bei ihr zu verantworten, dann würde er sie um Verzeihung bitten - und daran glauben, daß sie es versteht.

Er sah hinüber auf den Tisch. Dort standen die Karteikarten mit den Namen und Krankengeschichten der Lazarettinsassen. Blatt an Blatt - Sie mußten ihm die Heimat ersetzen, die Wehrlosen, die Jammernden und Hilfesuchenden.

Über den Flur tappte der Schritt eines Mannes. Emil Pelz ging zu Zimmer vier, um dem heute mittag verbundenen SS-Mann eine Injektion zu machen.

Zwei Tage später setzten die Verhöre ein.

Die großen Zimmer der Kommandanturbaracke waren ausgeräumt worden. Major Worotilow wurde aus seinem Zimmer verdrängt und kroch bei Dr. Kresin unter, der brummend die Vorbereitungen ansah und mit den Kommissaren kaum ein paar Worte wechselte.

Der Erdbunker außerhalb des Lagers, in dem jahrelang die Kartoffelvorräte lagerten und der sogar beheizbar war, damit Kapusta und Kartoffeln nicht erfroren, wurde ausgekehrt und abgeschlossen. Worotilow sah es mit gerunzelter Stirn und meinte zu Dr. Kre-sin: »Es sieht aus wie ein Kriegsgericht, Genosse. Man säubert sogar die Bunker für eine Dunkelhaft.«

Der Schneesturm war plötzlich sonnigem Wetter gewichen - eine kalte, fast weiße Sonne, die aus den Schneefeldern glitzernde Diamantenhügel machte, aber sie verbesserte die Laune der Plennis zusehends.

Verhöre kannte man! Seit Jahren fanden sie in gewissen Abständen statt und verliefen entweder im Sand oder lösten sich in Schimpf-tiraden auf. Etwas Besonderes war nie dabei herausgekommen - es sei denn, daß man die plattgeschlagene Nase Hans Sauerbrunns etwas Besonderes nannte.