Eines Tages beim Morgenappell wurden die ersten Namen bekanntgegeben, 125 Namen, die Markow von einer langen Liste vorlas, worauf er die Männer anschrie, rechts herauszutreten.
Peter Fischer war unter ihnen. Karl Georg und Emil Pelz, der Sanitäter. Als letzten Namen las Markow den von Doktor Schultheiß vor. Dr. Jens Schultheiß.
Janina, die am Fenster der Lazarettbaracke stand, wandte sich ab und zog die Gardinen vor.
Am Eingang der Kommandantur stand einer der Kommissare. Er sah hinüber und schrie etwas über den Zaun. Leutnant Markow nickte und steckte die Liste ein. »Die auf Liste, marsch!« kommandierte er. Er setzte sich an die Spitze des elenden Haufens und marschierte mit ihnen durch das große Tor zur Kommandantur.
Dort wurden die 124 Plennis aufgestellt. Einer aus dem Haufen rannte zum Lazarett, um Dr. Schultheiß zu holen, der seine Morgenvisite machte. Worotilow gab den zweiten Teil der Listen an den
Leiter der MWD-Kommission weiter. Inmitten der langen Kolonnen war ein Name dick durchgestrichen.
Der Name Dr. Fritz Böhler.
Gab es wirklich in kürzester Zeit Entlassungen nach Deutschland -der Stabsarzt Dr. Böhler aus Köln war nicht unter denen, die im Viehwagen wochenlang durch Rußland und Polen zur deutschen Grenze rollten.
Hinter dem großen Tisch, der die ganze Längswand des Zimmers ausfüllte, nahmen der Major des MWD, drei Kommissare und die Dolmetscherin Platz. Jakob Aaron Utschomi drückte sich in einer Ecke herum und hatte die undankbare Aufgabe, die Übersetzungen der Wechselrede noch einmal zu überprüfen und Protokoll zu führen. Major Worotilow fungierte nur als Zuschauer. Er saß abseits an der Schmalwand des Zimmers mit Dr. Kresin und der Ka-salinsskaja. Leutnant Markow regelte mit stimmgewaltigen Flüchen das Einschleusen der Plennis in den Saal und den Abtransport der als schwarz befundenen Schafe. Dazu standen vor der Baracke dreißig schwerbewaffnete Rotarmisten mit Maschinenpistolen und Dolchen, Männer aus der Tungusen-Steppe.
Die Verhöre gingen schneller, als man erwartet hatte. Keine fünf Minuten, und aus der Baracke stolperten die ersten Abgefertigten. Sie wurden zur Seite geführt, ohne jede Möglichkeit, die noch Wartenden darüber zu verständigen, was im Innern der Baracke vor sich ging. Manche kamen auch nicht wieder - sie warteten in einem kleinen Zimmer und wurden dann schubweise in den Erdbunker geführt. Man sah es jenseits des Drahtes mit Zähneknirschen und Empörung. Roh stießen die Tungusen die Männer in den Kartoffelbunker hinab und schlossen dann die Tür.
Von einem Verhör im Sinne eines geltenden Kriegsgerichts konnte eigentlich keine Rede sein. Während die drei MWD-Offiziere schweigend an dem langen Tisch saßen und in die aufgeschlagenen Aktenstücke sahen, führte die hübsche Dolmetscherin allein die Verhandlung. Sie las nur vor, was man ihr zuschob, und sie erwartete die Antworten der Verhörten, um dann nach einem Blick auf den schweigsamen Major das Urteil ungerührt bekanntzugeben.
Ein junger Unteroffizier stand vor dem Tisch. Er war bleich, ausgehungert. Seine schwieligen Hände ließen darauf schließen, daß er schwere Arbeit im Lager verrichtete. Abwartend stand er vor der Dolmetscherin und starrte auf ihre langen, schwarzen Locken, die ihr über Schulter und Uniform fielen.
»Sie habben gehabt bei Ihrer Kompanie die Geräte?« fragte die Dolmetscherin.
»Ja.«
»Auch beim Vormarsch nach Rußland?«
»Ja. Ich war W. u. G. Das gibt es bei jeder Truppe.«
Die Dolmetscherin nickte und nahm ein Blatt aus der Mappe.
»Sie werden hiermit zum Tode verurteilt«, sagte sie gleichgültig. »Begründung: durch die Pflege der Waffen und Geräte haben Sie maßgeblich dazu beigetragen, daß Ihre Truppe in Rußland Menschen töten konnte. Sie sind deshalb des Mordes schuldig. Einzig und allein durch eine Pflege der Waffen war Ihrer Truppe der Vormarsch möglich. In Verfolg einer Gnadenaktion werden Sie vom Tode zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt. Abführen.«
Schwankend wurde der junge Unteroffizier in den Nebenraum geschoben. Markow grinste. Er schob einen anderen Plenni ins Zimmer, einen Oberfeldwebel, groß, breit, ein Bayer. Bauer und Milchviehzüchter.
Die Dolmetscherin nahm wieder ein Blatt aus den Akten. »Sie Transportleiter? Was versteht man darunter?«
»Ich hatte für den Nachschub zu sorgen«, sagte der dicke Bayer laut.
»Sie sind hiermit zum Tode verurteilt, weil Sie es durch Ihren Nachschub ermöglichten, daß die Deutschen alle Mittel in die Hand bekamen, Rußland zu zerstören.« Die Dolmetscherin las es vor, als sei es ein beliebiger Zeitungsartikel. »Sie werden zu 25 Jahren Zwangsarbeit begnadigt. Der nächste!«
Dr. Kresin stieß Worotilow an, der stumm vor sich hin auf die Dielen starrte.
»Wir müssen die Uniform ablegen«, sagte er leise. »Wir haben es durch menschliche Maßnahmen ermöglicht, daß die deutschen Gefangenen noch leben. Das ist Sabotage am russischen Vergeltungswillen. Ich verurteile Sie, Worotilow, zu lebenslänglich Sibirien!«
»Seien Sie still«, sagte Worotilow gequält. »Ich schäme mich.«
Die Mehrzahl der 125 Plennis aber ließ man laufen. Es waren Landser, arme Schweine, die nur ihre Pflicht taten, die im Dreck lagen, weil man es ihnen befahl, und die in Gefangenschaft kamen wie eine Herde Lämmer, die dem Leitbock nachtrottete. Sie wurden kaum verhört - sie erhielten eine Nummer in der Liste, wurden nach draußen geführt und abgesondert. Nur die Soldaten, die irgendeine Funktion in der Truppe bekleideten - ob es Furier war, Kleiderbulle, Koch, Melder, Ausbilder, Schreiber, Rechnungsführer, Spieß oder Funker -, wurden mit dem stereotypen Satz verurteilt: Sie haben dazu beigetragen, daß Ihre Truppe die Möglichkeit hatte, in Rußland einzufallen und zu morden. Zum Tode. Begnadigt zu Lebenslänglich oder fünfundzwanzig Jahren!
Am Mittag waren die 125 durchgeschleust. Dr. Jens Schultheiß hatte Glück - man sagte ihm nicht, daß er als Arzt die Leute wieder gesund gemacht und dadurch immer wieder neue Soldaten gegen Rußland in den Kampf geschickt habe. Man würdigte in ihm den Stand des Arztes, der auch in Rußland sehr geehrt wird. Man musterte ihn schweigend, die Dolmetscherin lächelte, dann bekam er eine Nummer und durfte gehen. Nummer 4592/11.
Die Verhöre dauerten zwei Wochen. Vormittags und nachmittags wurden die Plennis durch die Kommandanturbaracke geschleust. Der Kartoffelbunker füllte sich - 67 Verdammte, die man zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglicher oder fünfundzwanzigjähriger Zwangsarbeit begnadigte.
Sie blieben nur eine Nacht in ihrem dumpfen Gefängnis. Am nächsten Morgen wurden sie in eine Baracke transportiert, die etwas abseits lag und um die man einen besonders hohen Stacheldraht gezogen hatte. Tag und Nacht ging eine schwerbewaffnete Patrouille um den Zaun herum. Verpflegt wurden sie vom Hauptlager - man brachte das Essen in Kübeln zu ihnen an den Zaun, wo die Russen selbst die Suppe und das Brot verteilten.
Unter den Entlassenen war auch Dr. von Sellnow. Man hatte ihn krank gemeldet, momentan in Stalingrad, obwohl keiner wußte, ob er wirklich dort war. Wie Dr. Schultheiß hatte man ihm eine Nummer gegeben und ihn in eine besondere Liste eingetragen. Woroti-low hatte für ihn gesprochen - er brauchte nicht einmal verhört zu werden.
»Arbeitsunfähig?« fragte die Dolmetscherin nur.
»Vollkommen! Gehirnoperation!«
»Kommt in Kategorie I. - Der nächste.«
Dann - ganz plötzlich - war der Spuk verflogen.
Die MWD-Offiziere fuhren nach Stalingrad zurück. Die Baracke wurde wieder eingeräumt, Worotilow bezog sein Zimmer - nur die abgesperrte Strafbaracke bewies, daß die beiden Wochen kein bloßer Traum gewesen waren. Die Kasalinsskaja war die einzige, die die Strafbaracke betreten durfte und dort die Kranken untersuchte. Sie tat es gewissenhaft, mild und - entgegen ihrer früheren Art - höflich. Noch wußte sie nicht, daß Sellnow auf der Entlassungsliste stand und es keine Macht mehr gab, die ihn in Rußland zurückhalten konnte. Moskau befahl - und was gibt es in Rußland Höheres, als einen Befehl aus Moskau? Sie lebte noch immer in dem Glauben, daß Werner von Sellnow transportunfähig und eine Entlassung deshalb ausgeschlossen sei.