den Kopf zur Wand hin und begann wieder haltlos zu schluchzen. »Und dafür büße ich jetzt... für meine Feigheit, für meine Angst ... und ich weiß, daß ich sterben werde ... sterben muß!«
Ich konnte ihm nicht helfen. Ich konnte nur seine heiße, zuckende Hand halten und sie immer wieder streicheln.
Gegen vier Uhr morgens wurde der Kranke plötzlich sehr unruhig, klagte über heftige Schmerzen im Oberbauch, bekam einen Schluckauf, der ihn jedesmal vollkommen durchschüttelte, und fing an zu brechen. Es war ein Brechen, das ohne Würgen und ohne Anstrengung vor sich ging. Es sprudelte den Mageninhalt einfach oben heraus.
Ich erschrak zu Tode, denn auch der Puls war plötzlich sehr schlecht, und der Kranke sah verfallen aus, mit eingesunkenen Augen und fahler Gesichtsfarbe.
Ich rannte aus dem Zimmer und klopfte bei Dr. Sellnow. Er kam im Hemd und eilte an das Bett des Oberfähnrichs. Ein Blick genügte ihm, um ihn in seiner bekannten Art fluchen zu machen.
»Eine Schweinerei«, schrie er unbeherrscht, »aber das war ja vorauszusehen, daß das in diesem Sauladen nicht anders gehen würde. Wir müssen den Chef holen.«
»Ist es ganz hoffnungslos?« fragte ich leise.
Er muß aus meiner Stimme die Angst herausgehört haben, denn er sah mich groß an.
»Warum? Haben Sie noch nie einen Menschen sterben sehen?«
»Keinen, bei dem es mir so nahegehen würde!«
»Kennen Sie denn den Knaben?« Er deutete mit dem Kopf auf den stöhnenden Oberfähnrich.
»Jetzt ja«, sagte ich zögernd.
Die Drohung Worotilows fiel mir ein: »Wenn der Patient stirbt, werde ich Sie alle wegen Mordes melden!« Eine tierische Angst ergriff mich. Ich stand auf und rannte in dem engen Raum hin und her. Er darf nicht sterben! Er darf nicht! Er zieht uns ja alle mit in den Tod, uns alle.
Dr. Böhler kam ins Zimmer, hinter ihm Sellnow, immer noch im
Hemd. Auch die Kasalinsskaja erschien jetzt. Sie beugte sich neben Dr. Böhler über den Stöhnenden.
»Wieder aufmachen?« fragte sie leise.
»Wird wohl nichts anderes übrigbleiben«, erwiderte Dr. Böhler kurz und richtete sich auf.
Böhler, Sellnow und die Kasalinsskaja traten einige Schritte zurück und steckten die Köpfe zusammen.
»Schwierige Diagnose«, flüsterte Böhler. »Wahrscheinlich ist es eine Peritonitis mit Darmlähmung, aber es kann ebenso ein halbes Dutzend anderer Sachen sein.«
»Was denn?« fragte die Kasalinsskaja.
»Verstopfung eines Darmgefäßes, eine Arterien- oder eine Venenthrombose, eine akute Pankreatitis oder ein Ileus. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich werde eine Probe-Laparotomie machen, und wir werden sehen; wahrscheinlich ist es doch eine Bauchfellentzündung mit Darmlähmung, und wir müssen einen Kunstafter anlegen. Glauben Sie, daß wir irgendwo Instrumente und Medikamente für eine Dauertropfinfusion oder eine Bluttransfusion auftreiben könnten?«
»Woher?« Die russische Ärztin zuckte mit den Schultern. Sie trug ein langes Nachthemd und darüber einen leichten Kimono.
»Fragen Sie bitte Dr. Kresin«, sagte Böhler, »er hat mir volle Unterstützung versprochen.«
Emil Pelz erschien mit zwei seiner Gehilfen, und sie hoben den immer noch stöhnenden Kranken auf die Tragbahre.
Dr. Böhler sah mich an. »Sie legen sich hin, Schultheiß«, sagte er streng, »ruhen Sie sich aus. Sellnow wird assistieren und die Ärztin. Sie werden dann die Pflege des Frischoperierten übernehmen.«
»Jawohl, Herr Stabsarzt.«
Die Bahre wurde hinausgetragen. Noch auf dem Flur vernahm ich das Wimmern des Jungen, des Kompanieführers mit neunzehn Jahren, der die Hände vor Angst hochhob, anstatt seine zehntausend Schuß zu verschießen.
Nun ist es früher Morgen, Dämmerung liegt über dem Lager. Dort, wo sich die Wälder zum Ural dehnen, bleicht der Himmel. Die Posten auf den Wachttürmen frieren ... ich sehe es, weil sie die Arme gegen die Brust schlagen. In Rußland sind auch die Sommermorgen kalt.
Auf der Latrine in der Nähe der Küche ist schon Betrieb. Die zur Küche Eingeteilten schlurfen über den Platz. Bascha steht an der Tür. Sie lacht über ihr breites Gesicht ... ihre starken Hüften zeigen sich unter dem dünnen Kleid.
Sogar Leutnant Markow ist schon auf. er sieht blaß aus und ist wieder schlechter Laune. Wann hat er je einmal gute Laune?
Jetzt ist die Sonne da . sie strahlt über den Platz, die Dächer der Baracken flimmern. Die Kolonnen der Nachtschicht rücken ein. Sie sind müde und torkeln vor Erschöpfung über den sandigen Platz. Tiere, die man zuschanden treibt. Atmende Gerippe. Der Oberfähnrich schläft wieder in seinem Bett.
Die zweite Operation ist gut verlaufen. Es war doch eine Bauchfellentzündung mit Darmlähmung. Aus seiner linken Seite läuft aus dem Drän immer noch Eiter in einen Haufen Mull.
Böhler hat einen Kunstafter angelegt, den er so lange tragen muß, bis die Bauchfellentzündung abgeklungen ist und die Därme ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Wenn es dazu überhaupt noch jemals kommen sollte. Aber jetzt schläft er ruhig.
Die Sonne ist jetzt schon warm, es wird ein heißer Tag werden. Ich habe Sehnsucht nach Vater und Mutter und möchte weinen.
Stalingrad, Tingutaskaja 43.
Ein niedriges, neues Haus mit blanken Fenstern in einem großen Garten, nahe an der in der Sonne glitzernden Wolga.
Rings um das kleine Haus die Gerüste der Neubauten: Fabriken, Arbeitersiedlungen, Kinos, Theater, Geschäfte der staatlichen Kon-sume, ein großes Gebäude der Partei, ein Denkmal für die Befreiung Stalingrads. Und dazwischen die Wolga wie fließendes Silber, breit, herrlich, still. Majestätisch in ihrer Unendlichkeit.
Dr. Kresin hielt den kleinen Jeep an und schob die Tellermütze in den Nacken. Er stieß Dr. Schultheiß in die Seite und nickte ihm zu.
»Hier sind wir. Ich will Ihnen noch einige Hinweise über Ihre Patientin geben. Janina Salja können Sie nichts vormachen. Seien Sie ehrlich zu ihr. Sie ist Leiterin der Sanitätsbrigade von Stalingrad. Sie weiß genau, was ihr fehlt, und hat mir selbst die Diagnose mitgeteilt: offene Tbc, im linken Obergeschoß eine dreirubelstückgroße Kaverne. Gewichtsverlust innerhalb eines halben Jahres zwanzig Pfund. Genügt das?«
»Haben Sie Aufnahmen?« fragte Dr. Schultheiß.
»Es liegen gute Röntgenbilder vor, die über die Krankheitsdauer hinweg aufgenommen sind«, nickte Dr. Kresin.
»Und was ist bisher getan worden?«
»Wenig: Ruhe, frische Luft, Liegekuren an der Wolga, gutes Essen, Sahne, frisches Gemüse und Lebertran. Es ist ein Versuch mit Tuberkulin gemacht worden, zur Bekämpfung des Hustenreizes bekommt die Patientin Guajakol und für die Nächte Codein.«
»Der Erfolg war natürlich negativ?«
Kresin nickte wortlos. Er kletterte vom Sitz und klopfte an die Balkentür. Ein Rotarmist öffnete und grüßte, als er den Arzt sah. »Ist Genossin Salja da?« fragte Kresin.
»Jawohl.« Der Soldat blickte auf den Gefangenen. »Der deutsche Arzt?«
»Mach schon auf, du Idiot!« schrie Dr. Kresin. Er trat gegen die Tür. Sie sprang auf, krachte gegen die Wand und schlug wieder zurück. »Kommen Sie«, sagte er zu Dr. Schultheiß, »hier ist alles mißtrauisch, weil alle ein schlechtes Gewissen haben.«