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Was mit den Leuten in der Strafbaracke geschehen sollte, wußte Worotilow nicht. Der MWD-Major hatte die Schultern gezuckt, als er ihn danach fragte. »Es kommen noch Befehle«, sagte er ausweichend. »Vielleicht kommen sie zu einer anderen Lagergruppe, vielleicht nach Swerdlowsk oder zum Eismeer. Ich weiß es nicht. Lassen Sie die Kerls erst einmal in der Baracke, und pflegen Sie sie gut! Wir brauchen sie ja noch.«

So wurde es wieder still im Lager.

Die Tage rannen dahin. Arbeit in den Außenlagern, Lagerdienst -und nach zwei Tagen Sonne wieder ein Schneesturm, der vom Osten aus der Steppe kam und die Bäume niederbog. Die Pakete wurden aufgezehrt, man stand wieder nach Kapustasuppe an und aß das dunkle, glitschige Brot. Michail Pjatjal blies wieder unter Peter Fischers Leitung Trompete, und Bascha ließ sich weiter von den zum Küchendienst Abkommandierten in den Hintern und in die prallen Brüste kneifen. Seit die Pakete gekommen waren, ging es den Plennis dabei nicht mehr nur um eine Sonderportion - und ein junger, großer Soldat, ein Bauer aus der Rhön, hatte das Glück, Bascha an einem Abend im Keller über einen Haufen Kartoffeln werfen zu können.

»Du altes Schwein«, sagte sie leise. Aber sie hielt still, und der Lange genoß langentbehrte Freuden.

Das Leben ging weiter. Dr. Böhler operierte in einer Nacht eine Gallenblase, assistiert von Dr. Kresin und der Kasalinsskaja. Dr. Schultheiß schlief bei seiner Janina.

Aber im stillen waren sie alle bereit, bereit zum Sprung in die Freiheit oder ins Verderben. Sie warteten.

Still . unauffällig . ergeben in ihr Schicksal. Sie hatten die Augen überall, die Ohren, alle Sinne . sie lauschten in die Nacht und in die Wälder, sie schlichen um die Verpflegungswagen und die Kommandantur. Sie horchten auf den Herzschlag, der durch das Lager ging, auf dieses ängstliche Klopfen so vieler Herzen, die um ihr Schicksal bangten.

Warten! Warten!

Bald wird Frühling sein! Bald wird die Sonne scheinen, die warme Sonne. Der Schnee wird schmelzen, die Flüsse auftauen, die Bäume wieder grün werden. Zunächst wird alles ein großer Sumpf sein, in dem Menschen und Tiere steckenbleiben und versinken - und dann wird die Sonne brennen, die Straßen werden trocken und fest sein, die Wälder und die Felder, die Steppen und Wiesen werden blühen. Frühling!

Die Arbeiter der Kolchosen werden hinausfahren auf die Felder. Die Mädchen ziehen singend mit den Geräten über die Wege. Arbeitskommandos vor! 10 - 20 - 30 - 100 - 1.000 Plennis ab zu den Feldern! Pflügen! Säen! Eggen! Pflanzen! Die Erde bricht auf. der ungeheure fruchtbare Schoß bietet sich dar! Lastwagen werden kommen mit Saatgut. Raupenschlepper rattern über die Felder, Traktoren pflügen die schwarze Erde um ... aus der Steppe werden die Reiter kommen, um einzukaufen in Stalingrad und Saratow . kleine Reiter auf struppigen Rössern, die Erben Attilas und Dschingis-Khans. Ihre Filzzelte stehen dann an der Wolga, die Lagerfeuer leuchten. Die Romantik der Wolga steigt in den Himmel, an dem die Sterne glitzern, herrlicher als je.

Der Frühling! Frühling an der Wolga!

Und im Frühling sind die ersten Entlassungen!

Frühling 1950!

Noch schneit es ... aber was sind zwei oder drei oder vier Monate, wenn man so viele Jahre gewartet hat. Ein Hauch ... ein Nichts . ein Augenblick.

Und hoffentlich kommen bis dahin noch mehr Pakete.

Wenn die uns bloß nicht vergessen in der Heimat.

Im staatlichen Lazarett zu Stalingrad standen die Assistenzärzte in Gruppen beisammen und tuschelten. Der Professor saß bleich in seinem Zimmer, sein weißer Bart in dem tatarischen Gesicht zitterte.

Im Nebenraum hörte man einen Mann schreien. Schrill. Grell. Wahnsinnig. Er trommelte mit den Fäusten gegen die Tür, er rannte mit dem Kopf gegen die Wand und brüllte wie ein Tier: Sergej Kislew.

Man hatte soeben seinen Sohn eingeliefert. Heilung unmöglich. Krebs! Der Professor hatte es gesagt, da brach der große, dicke Mann zusammen und benahm sich wie ein Irrer. Er schlug dem Professor ins Gesicht und wollte ihn erwürgen. Nur der schnelle Zugriff des Oberarztes und dreier Assistenten rettete Pawlowitsch das Leben. Nun tobte er in dem kleinen Zimmer und schrie, daß es durch den stillen, großen Bau gellte.

Der Oberarzt lehnte bebend am Fenster und sah auf den im Sessel hockenden Professor. Eine Mumie, dachte er. Das ist nur noch eine Mumie, die einen berühmten Namen hat. Der Mann lebt ja nicht mehr.

»Um Sascha Kislew steht es sehr schlecht«, sagte der Oberarzt. »Wir haben festgestellt, daß vielleicht Verkürzung des Magens noch helfen kann.«

Pawlowitsch sah den Oberarzt wütend an. »Du bist ein Idiot«, antwortete er. Seine Stimme war schrill vor Zorn. »Das hat der deutsche Arzt schon gemacht. Wir können doch nicht den ganzen Magen herausnehmen! Er stirbt!«

Der Oberarzt sah aus dem Fenster über die gepflegten Rasenflächen des Krankenhausgartens. Auf einem Rollstuhl wurde ein Offizier von einem Pfleger durch den Schnee gefahren, dick vermummt in warme Pelze und Decken. Man konnte erkennen, daß man ihm beide Beine amputiert hatte.

»Ob wir diesen Dr. Böhler nicht doch wieder rufen?« wagte der Oberarzt zu sagen.

Pawlowitsch schüttelte den Kopf. »Nein!« sagte er hart.

»Er hat damals die Operation gemacht. Wir könnten, wenn der junge Kislew stirbt, immer sagen, daß es die Schuld des deutschen Arztes ist! Er hat operiert!« Der Oberarzt lächelte listig. »Er wird sich dagegen nicht wehren können!«

Der Asiate sah seinen Oberarzt lange schweigend und starr an. »Der Gedanke ist gut, Genosse«, sagte er dann leise. »Wir brauchen einen Schuldigen! Genosse Kislew ist im Aufsichtsrat der volkseigenen Schwerindustrie und hat gute Freunde im Kreml. Er ist alter Kommunist! Er hat Einfluß. Wir brauchen einen Schuldigen am Tode seines Sohnes.«

Der Oberarzt atmete auf. Er sieht die Falle nicht, dachte er glücklich. Nur so war es möglich, den deutschen Arzt herbeizuholen, zu helfen. Nur durch eine Gemeinheit, er ist ein Tatar, ein gelber Affe! Aber er ist alt und verbraucht . er merkt die Schlinge nicht, die ich ihm lege.

Er löste sich vom Fensterbrett und trat in die Mitte des Zimmers.

»Soll ich diesen Dr. Böhler holen lassen?« fragte er.

»Noch nicht.« Pawlowitsch erhob sich ächzend. Er litt in der letzten Zeit an Rheuma. »Was macht Sellnow?«

»Es geht ihm gut. Einige Stunden am Tag ist er bei Besinnung und unterhält sich mit der Schwester. Gestern hat er sogar geflucht, als man ihm das falsche Essen brachte.«

»Was hat man?!« schrie Pawlowitsch. Der Oberarzt erbleichte. »Man vergaß, das er Diät leben soll. Man brachte Normalkost!«

»Wer?«

»Pfleger von Station III!«

»Entlassen und melden!« schrie Pawlowitsch. »Wegen Sabotage melden!«

»Aber, Herr Professor. Ein Versehen.«

Pawlowitsch fuhr mit beiden Händen durch die Luft. »Ich will es so!« sagte er scharf. »Ein Versehen im Lazarett bedeutet den Tod! Ich kannte einen Fall, wo man einem Darmoperierten nach der Operation Grünkohl mit Mettwurst gab! Der Patient starb unter gräßlichen Qualen!« Der Professor schlurfte zur Tür. »Er wird entlassen und gemeldet! Ich will Ordnung in meiner Klinik haben. Wenigstens Ordnung, wenn alles andere versagt.«

Der Oberarzt sah ihm nach, als er die Tür öffnete und auf den hellen, weißgestrichenen Gang trat.

Versagen, dachte er. Auch du versagst, du Stalinpreisträger! Du weißt nicht mehr weiter, du ausgetrocknete Spinne, du Giftwurm ohne Blut.

Dann ging er zum Telefon und rief den MWD an. »Ja«, sagte er. »Abholen. Den Pfleger Paul Semjojew, Station III. Sabotage. Sofort abholen! Danke.«

Was ist ein Mensch in Rußland? In diesem Land, in dem selbst die Sonne Mühe hat, es ganz zu bescheinen?! Und wir alle sind ja nur Semjojews, die niemand vermißt.

In dem kleinen Zimmer 9 am Ende des Ganges - dem Sterbezimmer der Klinik - lag Sascha Kislew apathisch in den Kissen. Eine