»Na, also!« Hohn schwang in der Stimme des Asiaten. »Geben Sie nun zu, daß Sie den Genossen Kislew getötet haben?! Daß schon Ihre Operation mit der Radikalverkürzung des Magens völlig falsch war?! Gestehen Sie es doch, Sie Stümper! Sie flügellahmer Arzt von Stalingrad!« Taij Pawlowitsch sonnte sich in seinem Triumph. Er schrie, daß man es auf dem Gang hörte, und Dr. Böhler war erstaunt, mit welcher Kraft die Stimme aus dem vertrockneten Körper quoll. »Ich werde Sie wegen Mordes anzeigen! Sie haben dem Mann soeben eine Injektion gegeben!«
»Ich habe ihn kaum angerührt! Ich habe nur an den Flecken der Haut festgestellt, daß der Tod schon vor Stunden eingetreten ist.« Dr. Böhler sah die anderen Ärzte an. »Sie wissen, meine Herren, aus der Anatomie und der Zellpathologie, daß man nicht allein aus dem Mageninhalt, sondern auch an den Leichenflecken und den Veränderungen der Innenzellen feststellen kann, ob ein Mensch im Augenblick oder schon vor Stunden gestorben ist. Ich werde deshalb den Toten sezieren.«
»Nichts werden Sie!« schrie der Professor. »Ich verbiete es Ihnen! Der gesunde Verstand sagt ja, daß der Kranke vor einer Viertelstunde noch lebte! Ich habe Zeugen! Ich dulde nicht, daß ein deutsches Schwein an einem Genossen herumschneidet! Eine dreckige Nazisau!«
Dr. Böhler sah ein wenig hilflos von Arzt zu Arzt. Wo sein Blick hinwanderte, senkten sich die Köpfe. Er begriff. Er stand einer Macht gegenüber, bei der es nicht um Recht ging, sondern um das autoritäre Wort eines einzelnen. Um die Ansicht des Professors Taij Paw-lowitsch, des Stalinpreisträgers für Medizin. Selbst der Armenier senkte den Kopf, als Dr. Böhler ihn ansah. Unter seiner naturbraunen Hautfarbe ließ die Blässe sein Gesicht fahl erscheinen.
»Der Patient ist durch eine Überdosis Morphium gestorben«, sagte Böhler bestimmt. »Ich kann Ihnen die Einstichstelle zeigen!« Er wollte sich dem Toten zuwenden, aber Pawlowitsch trat ihm in den Weg. Seine geschlitzten Augen leuchteten voll Haß.
»Sie rühren den Genossen Kislew nicht mehr an!« schrie er wild. »Ich dulde keine Berührung eines Russen durch einen deutschen Hund mehr! Ich werde Sie sofort verhaften lassen! Sie Mörder!«
In diesem Augenblick geschah etwas, was Dr. Böhler Sekunden später heftig bereute und was ihn trotz aller Ungeheuerlichkeit der Situation in seiner Ehre als Arzt verletzte. Er sah den Professor kurz an, blickte in dieses gelbe, verschrumpfte Gesicht, in die geschlitzten Augen, auf den bösen, welken Mund - und dann holte er aus und schlug Taij Pawlowitsch mitten in die asiatische Fratze hinein. Wie von einem Katapult geschossen, flog der Greis in eine Ecke des Zimmers und brach dort zusammen.
Keiner der Ärzte rührte sich. Keiner sprang hinzu und hob den ohnmächtigen Professor auf. Wie eine Wand standen sie, und ihre Augen leuchteten.
Das war es, was Dr. Böhler wieder zur Besinnung brachte, was ihn tief erschütterte und beschämte. Er hatte einen Kollegen geschlagen, und dort standen die anderen Ärzte und ließen ihren Chef in der Ecke liegen. Er trat einen Schritt vor - die Mauer der weißen Mäntel öffnete sich, er ging durch die Gasse zur Tür und verließ das Zimmer 9. Als er die Tür schloß, sah er, wie der Oberarzt den Professor aufrichtete und zu einem Stuhl führte.
Im Treppenhaus der Klinik, in der Nähe der Anmeldeloge, stand er dann und wartete. Martha Kreutz kam die Treppe herab, sie hatte rote Backen. Man hatte ihr in der Arztmesse dickflüssigen Krimwein gegeben, der ihr zu Kopf gestiegen war.
Hinter ihr kam der junge Armenier die Treppe herabgesprungen. Er reichte Dr. Böhler die Hand und schob ihn und die Schwester durch das große Tor ins Freie. Kalte Schneeluft wehte ihnen entgegen. Schnee trieb über den weiten Platz vor der Klinik. Ein Pan-jeschlitten zog mit knirschenden Kufen über die vereiste Straße. Vor den Stufen des Eingangs wartete der Sonderwagen Taij Pawlowitschs.
»Fahren Sie, Kollege«, sagte der Armenier in gebrochenem Deutsch. »Lager ist sicher! Ich werde telefonieren Ihren Major. Nur fahren jetzt, ehe Professor Rache.!«
Er rannte zurück in die Eingangshalle, nahm den dicken Lammpelz Dr. Böhlers und legte ihn ihm über die Schultern. Der Chauffeur hatte schon die Tür des Wagens geöffnet. Dr. Böhler stieg ein, Martha Kreutz setzte sich neben den Fahrer. Der junge Armenier warf den Schlag zu.
»Wir alle wissen, der junge Kislew seit sieben Stunden tot!« rief er durch die Scheibe und winkte dem deutschen Arzt zu. »Jetzt fahren gut.«
Der schwere Wagen heulte auf, drehte auf dem weiten Platz und jagte durch den stiebenden Schnee auf die Chaussee zur Wolga hin. Dr. Böhler sah durch das hintere Fenster zurück. Der junge Armenier blickte dem Wagen nach und stand allein auf der großen Treppe. Jetzt gesellte sich aus der Halle ein anderer weißer Kittel hinzu, eine große Gestalt: der Oberarzt. Auch er blickte dem Wagen nach.
»Kommen Sie«, sagte er zu dem Assistenten. »Das Schwerste steht uns noch bevor. Der Professor hat sich eingeschlossen. Wir müssen Sergej Kislew endlich die Wahrheit über seinen Sohn sagen.«
»Wir?« der Armenier wurde fahl.
»Es muß sein! Wir werden auch das überwinden, und einmal muß er es ja doch erfahren. Er wartet seit zehn Stunden in seiner Tob-zelle.« Der Oberarzt faßte den Jungen unter. »Gehen wir, Genosse.«
Als sie die Zelle aufschlossen, saß Sergej Kislew auf seiner Pritsche und weinte. Was man ihm nicht sagte, hatte er in den Stun-den der Einsamkeit begriffen. Willenlos wie ein Kind ließ er sich hinausführen auf den weißen, kahlen Flur, an dessen Ende das schmale Zimmer 9 lag.
In aller Stille fand die Beerdigung von Janina Salja statt. Keiner aus dem Lager war zugegen. Nicht Dr. Böhler, nicht Dr. Schultheiß, die Tschurilowa oder Dr. Kasalinsskaja. Nicht einmal Major Worotilow konnte die Stärke aufbringen, hinter dem schlichten Holzsarg herzugehen, den der beste Lagertischler aus den Kiefern am Rande der Wolga gezimmert hatte. Vier Rotarmisten trugen ihn, und nur Dr. Kresin stand an der Grube und betete, nachdem er die Träger zu den Wagen zurückgejagt hatte.
Allein stand der große Mann in dem Schneefeld am Waldrand und blickte sich um. Dort war die Wolga. Groß, breit, für die Ewigkeit fließend. Dort waren die Wälder - dunkel, unübersehbar, verfilzt, urwaldartig sich hinziehend über Hunderte von Kilometern, ein Reich der Wölfe und Bären, die des Nachts durch den Schnee irrten und die Stille mit ihren unheimlichen Lauten erfüllten.
Hier lag die Grube, lag Janina Salja, die Tochter der Wolga, das Mädchen mit den weiten Augen, in denen die Unendlichkeit Rußlands schimmerte.
Langsam wandte sich Dr. Kresin um und tappte durch den hohen Schnee zu den Wagen zurück. Er kroch auf seinen Sitz und blickte durch die Scheiben in die andere Richtung, wolgaabwärts, woher sie gekommen waren.
»Werft es zu!« sagte er laut zu den wartenden Soldaten. »Und macht schnell... es wird Wind geben, und der Schnee staubt über die Steppe. Macht schnell, Brüder.«
Dann vernahm er das Knirschen der Schaufeln und das dumpfe Poltern der steinhart gefrorenen Erdbrocken in der Grube, und er drückte die Hände flach gegen seine Ohren, um es nicht zu hören. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Ihm war, als begrübe man eine Welt, in der er bisher gelebt hatte, und nun stand er einsam da, leer, nackt, ausgestoßen, verdammt weiterzuleben.
Und das Leben ging weiter.
Im Lager 5110/47, in Stalingrad, in der Klinik Professor Pawlo-witschs, in den Straflagern und bei den Außenkolonnen.
In Stalingrad versuchte Dr. von Sellnow die ersten Schritte am Arm einer Schwester. Pawlowitsch beobachtete von seinem Zimmerfenster aus, wie er, gestützt und in einen Pelz gehüllt, durch die reine Schneeluft im Garten schwankte. Er war zufrieden, der kleine Asia-te . die Gehirnoperation mit dem Meißel war dem deutschen Arzt gelungen. Er hatte eigentlich gehofft, daß Sellnow den Eingriff nicht überstehen würde. Sobald er aber erkennen mußte, daß er gegen alle Erwartungen am Leben blieb, hatte er keine Mittel gescheut, er hatte sie aus Moskau mit der Kurierpost kommen lassen. Drogen, die das Herz stärkten, Streptomycin, das die Entzündungen wegfraß, Hormonpräparate, die den Organismus strafften. Er hatte gesiegt, hatte den Tod in einem zähen Kampf bezwungen ... er hatte seine Niederlage bei dem jungen Kislew ausgelöscht. Er war in der Lage, der russischen medizinischen Welt einen Mann vorzuführen, der eine Krankheit überstanden hatte, die als unheilbar galt und der durch seine Operation wieder ein gesunder, vollwertiger Mensch geworden war.