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Dieser Ehrgeiz war es, der Dr. von Sellnow das Leben rettete und ihm alle Sympathien des Tataren einbrachte. Persönlich kümmerte er sich um die Fortschritte des deutschen Arztes und führte gewissenhaft wie nie die Krankengeschichte des >Gehirntumors<, wie er Sellnow bei seinen Ärzten stolz nannte.

Was weder Pawlowitsch noch Sellnow wußten, war die Entlassungsnummer, die Sellnow vor zwei Monaten bekommen hatte. Eine Nummer, die nun in Moskau beim Zentralkomitee durch die Mühle der schwerfälligen sowjetrussischen Bürokratie lief und einen roten Haken an allerhöchster Stelle erhielt.

Damit war Sellnow endgültig entlassen - noch nicht körperlich, aber listenmäßig. Es bedurfte nur des Befehls aus dem Kreml, und die Transporte rollten gen Westen, die großen Blätter der deutschen Sowjetzone rührten die Trommel der Propaganda, und in Frankfurt an der Oder wurden die Baracken geschrubbt und rote Fahnen zum Empfang bereitgelegt.

Wenn nur der Frühling bald kommt! Wenn nur die Sonne durch das Grau der Wolken bricht und der Schnee schmilzt. Der Dreck, der Schlamm, der berühmte General Schlamm, gehen vorbei - und dann kommen die Wagen und holen uns ab . drei . vier . fünf Lastwagen. Sie fahren uns weg in die Freiheit . mich und dich . und dich. Drum iß den Kapusta, das glitschige Brot, die Hirsegrütze, die zwanzig Gramm Butter und das Bröckchen Fleisch, das du in der Woche einmal in der Wassersuppe findest. Und die gefrorenen Kartoffeln iß auch, Kamerad . sie machen stark und dick . du kommst mit einem Kartoffelbauch nach Hause, und Mutter staunt: Mensch, biste dick jeworden! Emil . det is ja nich möglich! Vielleicht ist es auch Wasser, was dich so aufschwemmt, und du kommst in eine deutsche Klinik, wo man dich aufpäppelt . alles geht vorbei, Emil . denn du bist ja zu Hause und Mutter wartet und bringt dir immer leckere Sachen. Dann wirste wieder stark und vergißt die verdammten Jahre, die du in der Steppe verloren hast! Und die Nächte, Mensch, Emil, die Nächte! Eine Frau im Bett!

Mitte März kamen wieder Pakete im Lager an.

782 Pakete!

Die Plennis strahlten. Major Worotilow und Dr. Kresin freuten sich mit. Sie verzichteten auf eine scharfe Kontrolle und gaben die Pakete binnen zwei Tagen aus. Markow und drei andere Offiziere leiteten die Ausgabe und untersuchten die Pakete flüchtig. Auf Peter Fischer und sein Paket lauerte schon vor der Baracke Michail Pjatjal.

»Hast bekommen deutsches Arbeitterpudding?« fragte er gierig. Peter Fischer nickte. Sieben Pakete Eiermanns Schnellpudding gingen in den Besitz von Pjatjal über, der mit seiner Errungenschaft glücklich davonrannte und in der Küche seine Schüssel holte.

Wasser ... einen Quirl ... das Pulver ins Wasser, gerührt ... schwupps ... der Pudding stand. Pjatjal stöhnte vor Wonne und stand mit glänzenden Kinderaugen davor. Bascha hinter ihm schnalzte mit der Zunge.

»Die Deutschen sind Teufelskerle«, sagte Pjatjal ehrlich. »Bei ihnen hat es der Arbeiter besser als bei Mütterchen Rußland.«

Die 782 Pakete reichten für das ganze Lager drei Wochen. Sie wurden ehrlich verteilt. Kameraden, die nichts bekommen hatten, wurden von den anderen bis aufs Gramm ehrlich bedacht ... im Lazarett liefen Spenden ein. Schokolade, Marmelade, weißes Mehl, Büchsenmilch, Zucker, Kekse, Konserven mit Apfelmus und Gemüse. Blök-ke von Margarine stapelten sich bei Dr. Böhler, der wie bei der ersten Paketsendung genau Buch führte und die Portionen verteilte.

Major Worotilow wurde eingeladen. Die Lagerbäcker hatten aus den Beständen einige Torten gebacken ... es gab Neskaffee mit Sahne, die man aus Grieß mit Büchsenmilch geschlagen hatte. Auch Dr. Kresin wurde eingeladen, die Kasalinsskaja, die Tschurilowa, das ganze Lazarettpersonal ... man feierte den Geburtstag Dr. Schultheiß'.

In den Baracken zog die gute Laune ein. Der Druck der Ungewißheit wich ... wenn man Pakete durchließ, dann stimmte es auch mit der Entlassung. Zwar waren die damals Verurteilten aus der abgesonderten Strafbaracke nach unbekannten Zielen verlegt worden, aber die Mehrzahl der Plennis blieb zurück und hielt sich aufrecht durch den Glauben an die Zukunft.

Im Schrank bei Major Worotilow lagen drei Pakete und vier Karten für Dr. von Sellnow. Manchmal stand er davor und schüttelte den Kopf. »Was soll ich mit ihnen tun?« fragte er Dr. Kresin. »Wenn ich nur wüßte, wo er ist! Soll ich sie dem Lazarett geben zur Verteilung?«

»Warten wir noch ein bißchen.« Der russische Arzt kratzte sich das Kinn. »Vielleicht kommt er wieder. Wenn er tot wäre, hätte man uns benachrichtigt . es wäre bei den Transportlisten bestimmt herausgekommen. Aber man sagte nichts ... also lebt er noch! Es besteht eine Hoffnung, ihn wiederzusehen! Es ist auch die Hoffnung der Kasalinsskaja! Mein Gott, wenn sie wüßte, daß wir ihn nach Hause schicken und daß er verheiratet ist! Lassen Sie die Pakete und Karten bloß liegen, Genosse Major.«

Mit dem Ausgeben der Pakete begann auch wieder der rege Tausch mit den Wachmannschaften. Tabak und Büchsen wechselten ihre Besitzer gegen Dinge, die man in den Handwerkerstuben brauchte. Zangen und Hämmer, Meißel und Hobel wurden eingetauscht - plötzlich gab es sogar Stoffe in der Lagerschneiderei, Papier und Leinen bei den Buchbindern, die für die Lagerbibliothek arbeiteten und die handgeschriebenen Bücher, die man auf zerschnittenen Zementsäcken schrieb, einbanden. Leim wurde besorgt, Farben, Pinsel . die Maler strichen die Baracken von innen an . im Lazarett gab es einen Tagesraum mit Wandgemälden, die der Bühnenbildner der Theatergruppe malte. Neue Noten für das Lagerorchester wurden besorgt . man probte jetzt sogar klassische Musik. Tschai-kowsky, Borodin, Beethoven, Schubert. Es war, als flute eine Welle des Lebens durch die verschneiten Baracken, als erhebe sich das dumpfe Lager zu neuer Frische und sprenge die Enge der jahrelangen Verdammnis.

Je mehr sich der Winter seinem Ende zuneigte und der Frühling zu ahnen war, um so mehr hob sich die Stimmung im Lager.

Das Orchester veranstaltete einen Operettenabend. Der Lagerchor sang berühmte Jägerchöre. Die Lagerbühne spielte ein Lustspiel -es war von einem Oberlehrer geschrieben und wurde Major Wor-otilow zur Zensur vorgelegt.

»Es ist ein Stück von Schiller«, sagte der Regisseur.

»Von Schiller? Das ist sehr gut! Genehmigt«, sagte Worotilow. Schiller war unantastbar, Schiller kannte jeder Russe. Was von Schiller war, unterlag keiner Kritik. Es wird behauptet, daß Schiller, wenn er alle die Stücke geschrieben haben sollte, die man in Gefangenenlagern unter seinem Namen aufführte, fünfhundert Jahre gelebt haben müßte, um sein Pensum zu bewältigen.

Als die ersten Sonnenstrahlen leuchteten, fuhr Dr. Kresin zum Grab Janinas hinaus und legte die ersten Blumen nieder, die er in Stalingrad kaufen konnte. Es waren dicke rote Blüten aus der Krim. Sie glänzten im Schnee wie große Blutstropfen.

In der Klinik in Stalingrad ging Sellnow jetzt allein, nur mit Hilfe eines Stockes, im Garten spazieren. Er sonnte sich in den ersten warmen Strahlen, er aß die beste Kost, die es im Krankenhaus gab, er konnte sich innerhalb der Klinik frei bewegen und zeigte sogar wieder medizinisches Interesse, indem er einmal bei einer Operation im OP auftauchte und assistieren half.

Pawlowitsch war stolz auf ihn. Er stellte den deutschen Arzt seinen Studenten vor, er zeigte Röntgenplatten und erläuterte die Operation als sein Werk wie die darauffolgende pflegerische Leistung -nur an den Patienten selbst wagte er sich nicht heran. Er ließ die einfachen Zwirnsfäden im Kopf und riskierte nicht, sie durch echte Seide und Catgut zu ersetzen. Er wagte auch keine Plastik der Schädeldecke und bemerkte mit Mißfallen, wie die eine Schädeldecke etwas einsank und eine Vertiefung bildete. Da dies jedoch keinerlei Wirkung auf die Körper- und Geistesfunktion zeigte, übersah er die Einbuchtung geflissentlich.