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Sellnow schloß die Augen. Er schwankte ... er hielt sich an der Stuhllehne fest. Sein Gesicht war totenbleich. »Nach Deutschland.«, stammelte er. »Wir werden wirklich entlassen. Es ist wirklich wahr. Nach acht Jahren.«

»Ja.«

»Und Fritz? Dr. Böhler?«

Kresin wechselte einen schnellen Blick mit Worotilow. Der nickte kurz.

»Dr. Böhler auch!« log Dr. Kresin.

»Dann kommen wir alle zusammen zurück nach Deutschland?«

»Ja.«

»Auch Dr. Schultheiß?«

»Er auch.«

Sellnow wischte sich über die Augen. Sein Handrücken war feucht... er rieb ihn an der Hose ab. »Ich kann es noch nicht glauben«, stotterte er. »Ich kann meine Frau wiedersehen . das Kind. Ich komme wirklich aus dieser Hölle heraus.?«

Dr. Kresin lachte rauh. »Er wird schon wieder frech!« sagte er zu Worotilow. »Er nennt unser Mütterchen eine Hölle. Wenn der Kerl frech wird, ist er auch gesund! Gott verdammt noch mal . endlich hat man wieder einen im Lager, mit dem man schimpfen kann. Es war stinklangweilig ohne Sie, Sellnow.«

Lachend traten sie Professor Pawlowitsch gegenüber, der aus einer Ecke auf den Gang geschossen kam und sich schutzsuchend umschaute, wo eine Mauer weißer Kittel den Ausgang versperrte. Sämtliche Ärzte der Klinik standen am Ende des Ganges und sahen erstaunt auf die drei Gestalten, die an Pawlowitsch vorbei zum Ausgang gingen.

»Aufhalten!« kreischte Pawlowitsch wild. Er raufte sich die Haare und brüllte in einer unbekannten, asiatischen Sprache Flüche und Drohungen.

Der Oberarzt trat einen Schritt auf Dr. Kresin zu. Er musterte den Bullen und versuchte, so höflich zu sein, wie es ihm nur möglich war.

»Bitte, bleiben Sie«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung. »Entlassungen kann nur der Oberste Sowjetarzt aussprechen! Wir haben keine Weisung erhalten.«

Dr. Kresin lachte dröhnend. Sein Lachen tönte durch die Stille des Flures. Pawlowitsch verstummte und drückte sich an die Wand.

»Genosse Oberarzt«, sagte Kresin gemütlich. »Wenn du ein Köpfchen hast und du legst Wert darauf, dieses Köpfchen oben zu behalten, auf dem Halswirbel, mein Brüderchen, dann laß uns ziehen. Frage einmal bei dem General nach - er wird dich ohrfeigen, weil du überhaupt fragst. Oder soll ich nach Moskau melden, daß der Oberarzt von Stalingrad es wagte, einen Mann festzuhalten, der schon eine Transportnummer für eine Fahrt nach Deutschland hat? Soll ich das, Brüderchen? Man wird dir dann in den Hintern treten und dich in die Sümpfe schicken. Und ihn, deinen Professor, werden sie so lange auf den hohlen Kopf klopfen, bis er sich einbildet, er sei ein Amboß. Sei friedlich, Genosse, und gib den Weg frei! Tust du es nicht - Brüderchen, verzeih, aber dann haue ich dir in die Fresse. Es wird mir keiner verbieten und keiner übelnehmen!«

Dr. Kresin ging einfach weiter, auf den Oberarzt zu ... der wich zurück, gab den Weg frei ... die Kette der weißen Kittel teilte sich ... ungehindert gingen Worotilow und Sellnow hindurch und erreichten den Ausgang. Nur Dr. Kresin blieb zurück und gab dem verblüfften Oberarzt die Hand.

»Du bist ein kluger Junge«, sagte er gemütlich. »Du hast einen guten Kopf und ein noch gütigeres Herz. Du wirst einmal ein guter Arzt sein. Denk an mich, Brüderchen.«

Zufrieden eilte er den anderen nach und verließ die Klinik. Das hysterische Geschrei des asiatischen Alten gellte ihm nach, als er das große Tor hinter sich schloß.

Vor dem riesigen Haus lag der Schnee.

Die Sonne blendete. Schlitten huschten über die weiße Fläche. Ihre Glocken läuteten zart durch die kalte Luft. Bauern aus den Kolchosen an der Wolga stapften durch den Schnee und hatten in den verschnürten Bündeln ihre Einkäufe. Sie trugen sie an langen Stecken über dem Rücken. Ihre Pelzmützen waren tief ins Gesicht gezogen.

Auf der Spitze des Turmes leuchtete golden der Sowjetstern. Würdevoll blickten die Gipsstandbilder von Lenin und Stalin über den weiten Platz.

»Als ob nie Krieg gewesen wäre«, sagte Sellnow nachdenklich.

Worotilow nickte. »Wir wollen ihn auch vergessen.« Mit einer müden Bewegung schob er die Pelzmütze ins Gesicht. »Aber ob sie es in Moskau wollen. Ich glaube, wir alle unterschätzen die Menschen.«

Die Begrüßung der deutschen Ärzte war kurz. Man macht nicht viel Worte unter Männern, die jahrelang füreinander da waren und einer den anderen stützte. Dr. Böhler reichte Sellnow beide Hände und drückte sie herzhaft.

»Ich freue mich ja so, Werner«, sagte er. Seine Stimme war nicht ganz fest.

Er sah den Freund lange an. Sellnows Haare waren noch nicht wieder nachgewachsen, deutlich sah man, wo die Schädeldecke gemeißelt worden war.

»Ich danke dir, Fritz«, sagte Sellnow leise. »Für alles danke ich dir. Ich will verdammt sein, wenn ich dir das jemals vergesse. Und ich freue mich, daß wir jetzt auch zusammen nach Hause kommen.«

»Das ist schön, Werner.« Dr. Böhler sah kurz zu Worotilow hin. Der Major schüttelte den Kopf. Sellnow wußte also nichts, und es war gut, ihn vorerst in dem Glauben zu lassen, daß sie zusammen fahren würden. Auch Dr. Schultheiß, der mit leuchtenden Augen dabeistand, verstand den kurzen Blickwechsel und sah verlegen zu Boden.

»Ich fühle mich ganz wohl, Fritz«, sagte Sellnow. »Und fluchen kann ich auch schon wieder. Nur die Delle im Kopf..« Er lachte etwas gequält. »Ich verliere langsam meine männliche Schönheit.«

Dr. Böhler klopfte ihm auf die Schulter. »In Deutschland machen wir dir eine Plastik, daß du aussiehst, als kämst du direkt vom Olymp.«

Dann war Sellnow zum Zimmer der Kasalinsskaja gegangen und saß nun an ihrem Bett, streichelte ihr das Gesicht, die Schultern und die Brust und dachte dabei an die vier Karten, die ihm seine Frau geschrieben hatte, und an die Pakete, die er bei Worotilow auspackte und die die endgültige Rettung für ihn bedeuteten.

Durch den zeitlichen Abstand seit der letzten Begegnung mit Alexandra, die Operation und die langsame Genesung war seine Leidenschaft für die Ärztin merklich abgekühlt. Wenn er jetzt an ihrem Bett saß und über ihren Körper strich, so war es mehr das Gefühl einer schönen Erinnerung, vermischt mit der bei ihrem Anblick wieder erwachenden Lust, sie zu besitzen. Rein triebhaft waren die Gedanken, fern aller Ideale, in die er sich hineingeträumt hatte, als Alexandra ihm im Außenlager >Fabrik Roter Oktober< den Haushalt führte und er von einem Taumel in den anderen fiel. Er wußte, daß es auch jetzt wieder diese Nächte geben würde, daß es keinen anderen Weg gab, aus ihrer Liebe zu entfliehen, als abzuwarten und eine scharfe Grenze zu ziehen - an dem Tag, an dem er mit den anderen abfuhr in die Heimat. Was dann für Alexandra kam ... er wagte nicht daran zu denken. Es mußte der Zusammenbruch eines Menschen sein, dem alle Himmel einstürzten und der verlassener dastand als der letzte Überlebende einer Weltraumtragödie.

In einer dieser Nächte erzählte ihm Alexandra vom Tod Janinas. »Sie starb aus Liebe«, sagte sie traurig.

»Und was würdest du tun, wenn ich gehe?« fragte Sellnow.

»Ich würde nicht mich, sondern dich umbringen!«

»Das wäre töricht, Alexandraschka. Du willst mich umbringen, weil ich fortgehe - aber wenn ich tot bin, hast du auch nichts von mir.«

»Das stimmt.« Sie lächelte ihn an. Er sah ihre weißen starken Zähne hinter den blutvollen Lippen, das Gebiß eines unersättlichen Raubtieres.

»Aber auch die anderen haben dann nichts von dir! Die Frauen in Deutschland! Ich gönne dich keiner anderen Frau! Nur mich darfst du haben. Sascha ... nur mich.« Sie strich ihm über die Augen und küßte ihn. »Aber sie lassen dich ja nicht gehen.«, sagte sie an seiner Brust. »Noch bist du krank. Du bleibst noch lange bei mir . immer, Sascha.«

Und Sellnow schwieg.

Am nächsten Morgen bat Dr. Kresin Worotilow und die Kasalinsskaja zu einer kleinen Aussprache. Er saß in seinem Sessel wie ein rächender Gott und nahm sich keine Mühe, seine Stimmstär-ke zu dämpfen.

»Mit Weibern arbeiten - das ist schlimmer als einen Sack Flöhe hüten! Heulend kommt eben Pjatjal, dieser räudige Hund, zu mir und fleht mich an, der Bascha ein Kind abzutreiben! Im vierten Monat ist die Person! Himmeldonnerwetter!« Er sah Worotilow an, der breit grinste, und hieb auf den Tisch. »Ich fragte die Bascha: >Ist der Pjatjal der Vater?< Und was sagt das Mistvieh? >Weiß ich nicht, Brüderchen. Es waren viele, die mich auf den Rücken legten! Viele Plennis! Auch der Michail, ja, aber der Michail ist ein bequemer Bursche, ein faules Aas ist das. Aber die Deutschen ... o jeh ... die haben Feuer!< Das sagt mir dieser Hurenbalg. Und ich klebe ihr eine und will wissen, wer es alles war! Genosse Major . wenn ich die Liste dieser Kerls vorlese, brauche ich einen ganzen Nachmittag! Es ist eine Schande! Wir haben hier kein Gefangenenlager ... wir haben hier einen gutgehenden Puff!«