Selbst Sellnow blieb darauf still. Er dachte an die Abende in Nishnij Balykleij und die alte Bibel, in der er geblättert und versucht hatte, zu Gott zu finden im Augenblick der höchsten Not. Er hatte den Weg gefunden, der Spötter und Verächter Sellnow - aber er hatte ihn nicht weiter beschritten in den Monaten, in denen er in Stalingrad bei Pawlowitsch im goldenen Käfig der Genesung entgegenlebte.
»Wir werden Traubenzucker injizieren, um seinen inneren Widerstand zu stärken«, sagte er zu Schultheiß. »Wenn er kollabiert, wissen Sie ja.« Er faßte den jungen Arzt am Arm und sah ihn groß an. »Sie kommen auch mit in die Heimat, Schultheiß?«
»Ich hoffe es.«
»Wir wollen immer zusammenhalten, mein Junge, ja? Wir wissen nicht, wie es aussieht in Deutschland. Es soll sehr viel zerstört worden sein in den letzten Kriegsmonaten! Ich habe in der Klinik darüber gelesen. Ich weiß nicht, was Sie zu Hause vorfinden. Wenn es Ihnen schlecht geht - Sie haben es als junger Arzt sicher verdammt schwer, das weiß ich -, dann kommen Sie zu mir. Ich bin immer für Sie da, und meine Frau schreibt, daß alles wie früher bei uns ist. Ich habe Glück gehabt, in der Heimat und hier noch mehr. Kommen Sie immer zu mir, wann Sie wollen.«
»Ich danke Ihnen, Herr von Sellnow.« Schultheiß wollte ihm die Hand geben, aber Sellnow zog sie schnell zurück.
»Dummer Laffe!« sagte er grob. »Sentimentalitäten! Im Leben kommt nur der voran, der die anderen in den Hintern tritt! Merken Sie sich das!«
Er stapfte in sein Zimmer, wo die Kasalinsskaja saß und seine Sok-ken stopfte. Er empfand das als Erniedrigung ihrer Würde, aber er schwieg, weil er sah, daß es ihr Freude machte. Sie lebt sich schon ein, meine Frau zu sein, dachte er manchmal erschrocken. Ich möchte sie nicht sehen, wenn ich in den Wagen steige, um für immer wegzufahren. Ich möchte es nicht sehen.
»Sascha!« Die Kasalinsskaja lächelte ihn an. »Ich habe mit dem General in Stalingrad gesprochen. Ich werde nach Moskau fahren und darum bitten, daß sie dich hierlassen. Ich werde dich heiraten. Es soll einen Weg geben - wenn du dich für ein russisches Krankenhaus verpflichtest. Das tust du doch, Sascha, nicht wahr?«
Er würgte und nickte dann stumm.
»Ja«, sagte er endlich. »Ich werde es tun. Fahre du nach Moskau und bitte darum.«
Er sah das Glück aus ihren Augen leuchten. Herr, hilf mir, betete er im stillen. Was soll ich tun? Ich muß sie belügen ... laß bald Frühling werden, laß ihn schnell kommen .es geht über meine Kraft, sie noch länger zu belügen.
Aus Moskau kamen neue Befehle. Nochmalige Überprüfung der zur Entlassung Vorgeschlagenen. Die Zahl soll um 259 vermehrt werden - ohne Verhöre, nur auf Vorschlag der Kommandanten.
Und Worotilow setzte auch den gelähmten Walter Grosse auf die Liste, einen dürren Stecken harten Holzes, der atmete und ein Mensch war. Ein Vater von vier Kindern.
Als die Sonne kam, wurde die Post gesperrt. Die Karten wurden zurückgeschickt an die Moskauer Zentrale. 683 Plennis wurden mit neuer Wäsche versorgt, sie bekamen neue Hosen und neue Jacken.
Der erste Transport! Auch Dr. von Sellnow war dabei.
Sie standen in einem weiten Karree auf dem Appellplatz.
683 Plennis. In neuen Hosen, neuen Jacken, neuen Schuhen und neuen Socken. Worotilow, Markow und sieben andere Offiziere standen inmitten des von Menschenleibern eingezäunten Platzes und lasen noch einmal die Listen durch. Das »Hier!« der aufgerufenen Männer klang hell, befreiend, jauchzend in den blauen Himmel.
Die Sonne leuchtete. Der Schnee wurde weich, breiig, er quietschte unter den Sohlen und klebte wie Leim an den Stiefeln und den Rädern der Wagen. Das Eis auf der Wolga krachte wie Böller. Sieben Arbeitskolonnen waren am Fluß, um mit Stangen und Sprengpatronen den Wasserlauf freizuhalten. Es wurde Frühling - er kam aus der Steppe und zog über die Wälder, wie ein Hauch nur, kaum vernehmbar. Aber die Bäume reckten sich, die Erde wachte auf unter der schlammig werdenden Schneedecke. Die Kolchosen sahen die Traktoren nach, das Werkzeug, die Frauen knüpften neue Leinen und nähten Schürzen aus Sackleinwand.
Die 683 Plennis sahen in die Sonne und über das Land. Wer sein »Hier!« geschrien hatte, sah nicht mehr auf Worotilow .er war schon in der Heimat, die dort lag, wo die Steppe an den Himmel stieß, wo die Wolga unterging in dem Blau, das die Sonne durchleuchtete . dort, wo Stalingrad lag . und weiter, immer weiter, westlich. Würde man losheulen, wenn man das erste deutsche Bauernhaus sah? Würde man stammeln, wenn man das erste deutsche Schild las... irgendwo an einer Straße, an einem Bauernhof, auf einem Feld. Was würde man tun, wenn die ersten deutschen Frauen und Mädchen winkend an den Zug eilten? Frauen und Mädchen . nach acht Jahren.
Worotilow gab die durchgesehenen Listen an Leutnant Markow weiter. Dann sah er sich um ... sah den Männern ins Gesicht, die im Viereck um ihn herumstanden. Blasse eckige Gesichter, gezeichnet von Hunger und Elend, einige dicke Gesichter, runde Körper, aufgeschwemmt vom Wasser. Hungerödeme, dachte Worotilow. Sie sehen aus, als hätten sie acht Jahre lang ganze Feldküchen leergefressen . und dabei sind sie völlig entkräftet und fallen um, wenn man sie anpustet.
Außerhalb des Lagers warteten Kolonnen von Lastwagen. Hoch aufgetürmt lagen die Gepäckstücke daneben - Säcke, selbstgefertigte Rucksäcke, Kartons aus der Küche, ein paar Affen aus alten Wehrmachtsbeständen, sogar zwölf Koffer!
In der Küchentür stand Michail Pjatjal und musterte die wegge-henden Plennis. Unter ihnen ist der Mörder Baschas, dachte er verzweifelt. Man sollte sie alle töten, alle, diese deutschen Schweine. Er schaute mit Absicht weg, als Peter Fischer ihm zuwinkte. Er hatte Pjatjal die Trompete geschenkt, die Julius Kerner hinterlassen hatte, und dazu zehn Pakete Eiermanns Schnellpudding, was Pjatjal zu Tränen rührte. Aber jetzt, in der Stunde des Abschieds, zuckte das russische Herz Michails. Er dachte an Bascha und an Peter Fischer, und da er im Zwiespalt war, ob er zurückwinken sollte oder nicht, ging er in die Küche und warf die Tür hinter sich zu.
Ein Hauptmann von der Transportkolonne trat in das Viereck zu Worotilow.
»Sind wir fertig, Brüderchen?« fragte er leise. »Die Kerle müssen von Stalingrad heute noch weiter! Sie werden mit den Plennis der anderen Lager nach Moskau geschickt! Es eilt, Brüderchen.«
»Sofort!« Worotilow drehte sich herum. Er sah noch einmal die Reihen entlang. Peter Fischer. Emil Pelz, der Sanitäter. Hans Sauerbrunn. Karl Eberhard Möller. Karl Georg, der Gärtner, der noch gestern an der Baracke stand und weinte. Dr. Schultheiß, der große, hagere, blonde Arzt, dessen Janina unter einem Steinhügel am Rande der großen Wälder an der Wolga schlief.. Dr. von Sellnow, klein, drahtig, böse, sehr nervös, immer um sich blickend, als suche er etwas. Sie alle gingen nun fort ... und es wurde einsam im Lager ohne sie. Es war, als gingen Brüder fort in ferne Länder, wo man sie nie wiedersah.
Worotilow schluckte. »Lebt wohl!« sagte er laut. »Und vergeßt nicht in der Heimat, daß ihr frei wurdet durch die Gnade des großen Stalin, des Vaters aller Völker!«
Die Plennis schwiegen. Sie sahen zu Boden. Worotilow brach ab und wandte sich um. »Lassen Sie die Kolonnen in Gruppen zu 50 abrücken zu den Wagen. Das Lager absperren, damit keiner mehr mit den Zurückbleibenden in Kontakt kommt!«
Dann eilte er mit langen Schritten in die Kommandantur.
Er hatte sich gerade die Mütze vom Kopf genommen und den Schweiß vom inneren Lederrand gewischt, als die Tür aufgerissen wurde. Dr. von Sellnow stand im Zimmer. Sein Blick war starr.
»Wo ist Fritz?« sagte er laut.
»Welcher Fritz?« fragte Worotilow unnötig.
»Dr. Böhler!«
»Ich nehme an, im Lazarett.«
»Warum ist er nicht bei uns? Er wird doch auch entlassen!«
Worotilow sah an die Decke. »Nein«, sagte er leise.
Sellnow begriff nicht sofort den Sinn dieses Neins. Es war so ungeheuerlich, so plötzlich, so unfaßbar, daß er eine Weile erstarrt dastand, ehe er zusammenzuckte wie unter einem Schlag.