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»Sie haben mir gesagt, daß Dr. Böhler mit uns entlassen wird!« schrie er verzweifelt. »Sie haben mich belogen, Worotilow! Sie wußten, daß er bleibt! Sie haben es gewußt! Und ich muß gehen . ich lasse ihn allein zurück. Dr. Schultheiß geht auch . er glaubt auch daran, daß Böhler mit uns geht. Sie Schuft, Sie, Sie asiatisches Tier!«

Worotilow duckte sich, aber er sprang nicht vor. Er sah dem tobenden Sellnow ins Gesicht und sagte leise: »Dr. Böhler stand als einer der ersten auf der Liste. Aber seine unbegreifliche Starrköpfigkeit, seine übertriebene Pflichtauffassung zwangen mich, ihn wieder zu streichen. Und wofür? Für einen Dreckskerl, für ein Nazischwein, einen SS-Schergen!«

Sellnow sackte zusammen. »Er muß in Rußland bleiben. Warum gerade Böhler? Und ich. ich ... ich.« Plötzlich schrie er auf und schnellte vor, ein Körper, der wie ein Geschoß wirkte. Er klammerte sich an den Rock Worotilows und schrie ihm ins Gesicht: »Ich bleibe auch! Ich gehe nicht früher, als bis er geht! Ich bleibe zurück!«

Worotilow löste sich aus seinen Händen. »Es geht nicht, Sellnow«, sagte er fest. »Wer auf der letzten Liste steht, muß gehen, ob er will oder nicht!«

»Dann werde ich einen umbringen!« schrie der Arzt. »Dann müßt ihr mich hier halten!«

»Auch dann nicht! Sie werden nach Moskau geschafft ... das ist der Befehl! Und wenn Sie hundert Menschen töten . Sie kommen nach Moskau, weil Moskau Ihren Namen hat und Sie zu sehen

wünscht! Ganz gleich, was jetzt hier geschieht!«

»Ich werde mich wehren!« Sellnow wich zurück.

»Dann wird man Sie gewaltsam in den Wagen stecken! Sie kommen in die Heimat, ob Sie wollen oder nicht! Der Befehl aus Moskau steht über allem ... und über einen Befehl haben wir nicht nachzudenken. Wir gehorchen!«

Der Arzt drehte sich um, er riß die Tür auf und rannte aus dem Zimmer. Draußen bei den Wagen suchte man ihn bereits.

Markow stand mit den Listen in der Hand vor Dr. Schultheiß und brüllte ihn an, wo Sellnow sei. Als er ihn aus der Kommandantur kommen sah, schoß er auf ihn zu und zog ihn am Ärmel zu den Wagen. »Dawai!« schrie er. »Dawai!«

»Ich gehe nicht ohne Dr. Böhler!« Sellnow riß sich los und stürzte zu Dr. Schultheiß, der bleich vor dem Wagen stand, auf den er verladen werden sollte. »Er muß hierbleiben!« keuchte Sellnow. Sein Gesicht war verzerrt. »Er darf nicht mit.« Er klammerte sich an Dr. Schultheiß wie ein Ertrinkender. »Mein Junge .er verläßt uns . unser Chef, unser Fritz. Er bleibt in Rußland ... an der Wolga.« Dann brach er zusammen und wurde von zwei anderen Plennis aufgefangen, die ihn in den Wagen hoben.

Zögernd, wie ein Schlafwandler, stieg Dr. Schultheiß hinter ihm ein. Vom Führerhaus her schimpfte ein Russe, weil es so langsam voranging. Leutnant Markow rannte von Wagen zu Wagen und ließ das Gepäck nachwerfen. In der Nähe des Zaunes standen in Gruppen die Zurückbleibenden und starrten auf die Kameraden, die ihnen durch den Draht noch einmal zuwinkten. Ihre Gesichter waren hart, kantig, von Leid gefurcht. Stumm sahen sie zu und rauchten die Zigaretten, die man ihnen aus den Paketen der Abfahrenden gegeben hatte. Verlorene am Rande der Steppe.

Emil Pelz und Karl Georg kamen über den Platz gehumpelt. Sie schleppten zwischen sich den glücklichen, vor Freude laut weinenden Walter Grosse. Große, harte, schwielige Hände streckten sich ihnen entgegen. Walter Grosse wurde auf den Wagen gehoben. Jetzt war er einer der ihrigen, ein Plenni, der nach Hause fuhr, zu Frau und

Kindern, ein Mensch, der der Hölle entkam, dem man das Leben neu schenkte.

Im Lazarett arbeitete Dr. Kresin. Sein mächtiges Gesicht war eingefallen und grau - er sprach seit Stunden kein Wort. Terufina Tschu-rilowa, Erna Bordner und ein neuer Sanitäter hielten die tobende Kasalinsskaja fest; sie fesselten sie mit dicken Stricken ans Bett und kämpften mit ihren Beinen, die verzweifelt in die Luft traten.

»Laßt mich!« schrie die Kasalinsskaja. »Laßt mich los! Ich bringe ihn um, ihn und mich! Und Worotilow und dich, Kresin, du Scheusal, du Lügner, du Schuft, du Hund! Alle, alle habt ihr mich belogen! Ihr wußtet es!« Sie trat die Tschurilowa vor den Leib. Stöhnend brach sie zusammen. »Werner!« schrie Alexandra. »Werner! Du darfst nicht gehen! Laß mich nicht allein! Werner! Werner!« Schaum trat auf ihre Lippen, ihr kräftiger Körper zuckte in wilden Krämpfen.

Dr. Kresin zog eine Spritze auf. Dann beugte er sich über den gefesselten Arm und stieß die Nadel in die Vene. Evipan. Das beruhigte, das gab ihr Schlaf und stundenlanges Vergessen. Als er die Nadel herauszog, rannen Tränen aus Alexandras Augen. Dr. Kre-sin atmete auf. Sie weint, dachte er. Wenn sie weinen kann, ist die Macht des Schmerzes gebrochen.

Er dachte an Janina und das einsame Grab, um das die Wölfe heulten. Da legte er die Spritze auf den Tisch und verließ schnell das Zimmer. Später stand er am Fenster seines Sanitätsraumes und sah hinüber zu den Wagenkolonnen. Auch er empfand die Einsamkeit, die ihn nun umfing. Ich gehe in den Süden, dachte er. Ich melde mich fort! Warum hat mir Gott die empfindsame russische Seele gegeben.?

Die ersten Wagen fuhren an. Die Motoren heulten auf und übertönten die Rufe, die hinüberflatterten zu den Gruppen der Zurückbleibenden, die hinter dem Draht standen und sich gewaltsam bezwangen, nicht vor Schmerz zu schreien.

Arme winkten durch die Sonne. Worotilow stand am Fenster und winkte zurück ... selbst Markow war sehr gedrückt und hob grüßend die Hand, als Karl Georg, sein Blumenfeind, an ihm vorbeifuhr. »Grüß mir Blummen in Deutschland!« schrie Markow zu ihm hinüber.

Durch die Wälder rauschte ein warmer Wind. Er trieb den letzten Schnee von den Zweigen. Das dunkle Grün der Tannen stand herrlich vor dem Blau des Himmels. Auf den Wachttürmen lehnten sich die Rotarmisten über die Holzbrüstung und winkten. Es war, als nähmen nicht Gefangene Abschied, sondern beste Freunde trennten sich nach vielen gemeinsamen Erlebnissen.

Die ersten Wagen rollten über die Straße, Stalingrad zu. Sie bogen in die Kurve ein und verschwanden hinter dem Wald. Die letzten Wagen wurden noch beladen.

An der Rampe eines Wagens kauerte Dr. von Sellnow. Schultheiß und Peter Fischer hielten ihn fest. Er hatte den Versuch gemacht, aus dem Auto zu springen. Jetzt lehnte er an dem eisenbeschlagenen Holz und blickte zurück auf das Lager.

Ein hoher Zaun aus Draht, so lang, daß man glaubte, er umspanne die ganze Steppe. Dazwischen wie dunkle Klötze die Wachttürme. Scheinwerfer, Maschinengewehre. Die Kommandantur, die große Küchenbaracke. Das große Lagertor, das die Nummer trug und einen Spruch von Stalin. Die Postenhäuser ... dann die langen Baracken der Plennis ... Block an Block ... der lange, neue Bau des Lazaretts mit dem hohen steinernen Sockel. Dort, das vierte Fenster von rechts, war das Zimmer von Dr. von Sellnow. Dann kam der Raum für Dr. Schultheiß. Dort, die drei großen Fenster, das war der OP! Und dort ... wo die Blumen stehen, da wohnt Alexandra Kasalinsskaja. Alexandra ... du schwarzes Biest, du Weib, wie kein zweites, du wilde Katze. Wie feig war ich, wie elend! Ich habe dich verlassen ohne Abschied . wie ein Dieb stehle ich mich weg . und ich weiß, daß du mich geliebt hast mit aller Kraft. Verzeih mir . Alexandra . verzeih mir. Ich habe eine Frau und zwei Kinder . seit acht Jahren warten sie auf mich. Die große, schlanke, blonde, kühle Luise, die Aristokratentochter. Ich gehöre nun einmal zu ihr . ich kann es nicht ändern. Darum verzeih, Alexandraschka, und laß mich gehen zu Luise und den Kindern. Vergiß mich . ich werde dich auch vergessen.

Sellnow starrte hinüber auf das Lazarett. Dort, dieses Fenster . das mit den gerafften Gardinen aus Verbandmull . das ist das Zimmer Dr. Böhlers. Dort muß er weiterleben. Jahr um Jahr, in der Steppe, bei seinen kranken Plennis, die ihn lieben wie einen Vater. Dort wird er sitzen und nach Hause schreiben: Wartet, haltet aus! Auch ich komme einmal! Verliert nicht den Mut und den Glauben. Gott wird mich wieder zu Euch bringen, Ihr Lieben. Und er hätte mit uns fahren können, er hätte an unserer Seite sein können, wenn er nur dieses eine Mal sein Arzttum verleugnet hätte, statt sich dem Befehl des Kommissars zu widersetzen.