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»Fritz!« schrie Sellnow. Er streckte beide Arme nach dem Lazarett aus. Seine Stimme überschlug sich. »Fritz!« Dr. Schultheiß und Peter Fischer hielten ihn fest. Weinend wie ein Kind lehnte er an der Rampe und sah das Lager verschwinden im Schnee, in der Steppe, in den Wäldern, im Blau des strahlenden Himmels, der den Frühling brachte.

Die Räder mahlten. Der Boden war schon weich und schwankte unter den schweren Wagen. Dreck spritzte hoch. Die Fahrer fluchten.

Auf dem Eis der Wolga standen die Kolonnen der Plennis und sprengten die dicken Schollen oder stießen die festgeklemmten Klumpen hinaus in das schon freie, strömende Wasser. Sie hielten mit der Arbeit ein und winkten den Heimkehrenden zu. Gute Fahrt, Kameraden! Grüßt die Heimat! Die Mutter! Die Braut! Den Vater! Die Frau! Die Kinder! Vergeßt uns nicht, Kameraden! Schickt uns weiter die Pakete . sagt es allen. Wir leben nur noch, wenn ihr uns ernährt . wir sind am Ende unserer Kraft. Vergeßt es nicht, Kameraden! Vergeßt es nicht!

Die 683 auf den Wagen winken zurück. Auch die Posten mit den Maschinenpistolen vor der Brust winken kurz herüber. Dann arbeiten die Kolonnen weiter . ihre Sprengschüsse zerreißen die Stille der Steppe . das Eis der Wolga kracht auseinander und treibt in großen Schollen langsam nach Süden.

Es ist Frühling, Kameraden! Und wir fahren nach Deutschland.

Die 683 auf den Wagen singen. Sie singen mit Tränen in den Augen. Ein Transportoffizier, der das Singen verbieten will, bekommt hundert deutsche Zigaretten. Da lacht er und wendet sich ab. Laß sie singen, denkt er. Wir haben auch gesungen, als wir aus deutscher Gefangenschaft zurückfuhren. Wir haben die Bilder Stalins auf die Kühler der Autos gebunden und rote Fahnen geschwenkt. Laß sie singen, Brüderchen Leutnant.

Dr. Schultheiß blickte zurück auf die Straße. In der Ferne zog sich das dunkle Band der Wälder hin. Dort lag, nahe am Rande der dichten Tannen, das Grab Janinas. Sie war an ihrer Liebe gestorben, als sie sah, daß sie zusammenbrechen würde unter der Unerbittlichkeit des Schicksals. Jetzt lag sie allein in der Öde Rußlands, ein kleiner, zarter Körper, der so heiß wurde, wenn er liebte. Und Dr. Schultheiß wußte, daß er seine Jugend und sein Herz zurückließ in dem kleinen Grab am Rande der Wälder.

Langgezogen rollte die Kolonne durch die Schneelandschaft, Stalingrad entgegen.

Hans Sauerbrunn und Karl Georg aßen schon wieder. Wer weiß, ob man uns in Stalingrad nicht filzt, sagten sie sich. Und was man in sich hat, kann keiner nehmen! Sie hatten sieben Lagerverlegungen durchgemacht, und jedesmal standen sie ärmer da als zuvor.

»In vier Wochen können wir in Deutschland sein«, sagte einer. »Wenn alles glattgeht.«

»In vier Wochen?«

»Oder in sechs! Wir sind ja am Ende der Welt! Und nach Moskau müssen wir auch noch. Sagen wir ruhig sechs Wochen, Jungens.«

Vier oder sechs Wochen . wenn es nur keine Jahre mehr sind. Sechs Wochen ... und dann bei Muttern! Auf dem Sofa! Und ein Glas Bier! Das zischt, wenn es durch die Gurgel läuft! Und dazu eine Stulle dick mit Butter und Gehacktem, schön mit Zwiebeln und Ei und Salz und Pfeffer! Und das Radio spielt... es ist mollig warm in der Stube ... und Mutter läuft um einen herum und kann es noch

gar nicht fassen, daß der Alte wieder da ist. Aus Rußland ... nach acht Jahren! Und dann in der Nacht, im Bett. Mensch, Justav, ick kann nich weiterdenken.

Was sind da sechs Wochen.?

Als der letzte Wagen aus dem Lager rollte, trat Major Worotilow in den Operationssaal. Die Schwestern Martha Kreutz und Ingeborg Waiden standen neben Dr. Böhler, der sich im weißen Mantel, aus einem alten Bettuch geschneidert, über den narkotisierten Patienten beugte. Er blickte kurz zur Seite, als Worotilow eintrat, und arbeitete dann weiter.

Einen Augenblick stand der Major verblüfft in der Tür, dann zog er sie schnell zu. Der Geruch von Äther, Blut und Eiter drang auf ihn ein. Wie immer spürte er ein Würgen im Hals und zwang den Ekel nieder. Langsam trat er näher.

Zwischen den blutigen Abdecktüchern sah er einen aufgetriebenen, vereiterten Unterleib. Dr. Böhler war gerade dabei, mit einer langen Pinzette den Kern eines Geschwüres aus dem Muskelgewebe zu lösen. Worotilow schluckte.

»Sie sind weg«, sagte er leise.

Dr. Böhler sah auf und nickte. »Fiel es Werner schwer?«

»Sehr. Ich habe ihn mit Gewalt wegbringen lassen.«

»Das war gut von Ihnen. Ich danke Ihnen, Worotilow.«

»Sie haben keinen Abschied genommen.«

Dr. Böhler beugte sich über das Operationsfeld. »Dieser Unterleibsabszeß ist wichtiger. Der Mann wimmerte vor Schmerzen . ich mußte ihm helfen.«

»Helfen!« Worotilow faßte den weißen Ärmel Dr. Böhlers. »Wann denken Sie einmal an sich?«

»Nachts.« Die Pinzette tastete nach dem Eiterherd. »Nachts bin ich schon seit Jahren zu Hause in Deutschland. Die Tage sind nur eine Unterbrechung meiner Träume.«

Wortlos verließ Major Worotilow das Zimmer. Als er die Tür schloß, hielt Dr. Böhler einen Augenblick inne.

Zum erstenmal zitterte das Instrument in seiner Hand.

Drei Jahre später - in einer sternklaren Winternacht - betrat auch Dr. Böhler bei Helmstedt an der Zonengrenze den Boden der Heimat. Er kam als einer der Letzten aus der Steppe an der Wolga, und er sprach ein paar ergriffene Worte des Dankes. Die Fackeln loderten durch die kalte Nacht . der Jubel von Tausenden Menschen hatte die Heimkehrer umbraust . nun stand Dr. Böhler da, hager, schlank, mit lichtem Haar und schmalen Lippen. Er hatte eine so tiefe Sehnsucht nach Ruhe, nach Schlaf, nach Vergessen, nach Freude, nach Liebe, nach stillem, arbeitsreichem Werktag.

Als er aus dem Omnibus stieg und sich umsah, stürzte Sellnow in seine Arme und schluchzte vor Freude. Er war der erste, den er begrüßte - dann erst küßte er seine Frau und sein Kind, stumm, ohne Worte, weil ihm die Kehle zugeschnürt war und das Herz zuckte. Wie leblos ließ er sich in die Mitte nehmen und zum Lager geleiten, wo Dr. Schultheiß stand, der große, schlanke, blonde Junge mit den Kinderaugen, die noch in die Ferne blickten, als suchten sie das Grab Janinas an den Wäldern der Wolga. Er drückte seinem Chef stumm die Hand. Jetzt sind wir alle da, dachte er. Das ganze Lazarett. Emil Pelz wartet in der Schreibstube des Lagers, er wollte nicht herauskommen, weil er Angst hatte, loszuheulen.

»Sie sehen gut aus, Jens«, sagte Dr. Böhler leise. Dann schwieg er wieder, weil er spürte, daß er nicht weitersprechen konnte.

Er mußte an das Lager denken. 5110/47 an der Wolga, nahe den Wäldern, aus denen im Winter die Rudel der Wölfe brachen und sich hungrig gegen den Drahtzaun warfen, bis die Posten auf den Türmen sie erschossen.

Heute wie vor Jahren, dachte er, heute und morgen und ewig, solange die Erde sich dreht, wird der Wind der Steppe über die Ebene an der Wolga streichen, wird der Schnee hereinwehen von den dichten Wäldern, werden hungrig die Wölfe heulen und wird das Eis auf der Wolga krachen, wenn sich die Schollen gigantisch übereinandertürmen. Es wird einen blauen Himmel geben und einen dumpfen, bleiern grauen, aus dem der Schnee rieselt wie im Märchen. Es wird den Fluß geben, den ewigen Strom von Mütterchen

Rußland, die Wälder, aus denen die Axthiebe der Holzfäller klingen; der Jäger im Lammpelz wird durch die Büsche streichen und seine Fallen stellen, und der Bauer wird seinen Traktor über die Felder führen und den Samen in die fruchtbare Erde legen.

Und Himmel und Sonne, Schnee und Wind, Wälder und Fluß werden den Flecken Steppe umgeben, auf dem einmal ein langer Zaun aus Draht stand, unterbrochen von hohen, hölzernen Wachttürmen, einem großen Tor vor hingeduckten, langen Baracken. Block an Block.

Das Lager Stalingrad.

Das Lager 5110/47.