Wir werden nun schon vom dritten Sturm heimgesucht, und dabei ist noch nicht einmal der vierte Juli. Als ob die Geschäfte nicht schon schlecht genug gingen, und nun müssen wir uns auch noch mit diesen Stürmen rumärgern. Wenn das so weitergeht, bin ich bald erledigt.
Wir verlieren, sagte Dan sich. Wir befinden uns im Krieg und verlieren ihn. Verdammt, wir haben ihn schon verloren. Es hat gar keinen Zweck, sich etwas vorzumachen.
Die Feuchtigkeit machte sich als Schmerz tief in den Knochen bemerkbar. Es war eine quasi-arthritische Erinnerung an sein Alter und an die Strahlenkrankheit, die er sich vor Jahren zugezogen hatte. Ich sollte nach Selene zurückkehren, sagte er sich. Ein Mensch mit einem kollabierten Immunsystem sollte sich nicht auf der Erde aufhalten, wenn es nicht sein muss.
Trotzdem saß er stundenlang einfach nur da und starrte auf den tobenden Sturm. Aber er sah nur das Gesicht von Jane Scanwell, erinnerte sich an den Klang ihrer Stimme, die Berührung ihrer Finger, die seidig weiche Haut, ihren Geruch und wie förmlich die Sonne aufging, wenn sie den Raum betrat. Er erinnerte sich daran, wie sie sein Leben erfüllt hatte, obwohl sie eigentlich nie richtig zusammen waren, nicht mehr als ein paar flüchtige Stunden hier und da, bevor sie sich wieder zerstritten. Es gab einfach zu viel, das sie trennte. Nachdem sie das Weiße Haus verlassen hatte, war es ihnen gelungen, ein paar Tage auf einem tropischen Atoll zu verbringen. Und selbst das hatte im Streit geendet.
Wenigstens hatten sie die Dinge einmal aus der gleichen Sicht gesehen, hatten dasselbe Ziel gehabt, denselben Kampf auf derselben Seite geführt. Der Treibhauseffekt bedeutete Krieg, ein Krieg, bei dem die globale Zivilisation der Menschheit gegen die blindwütigen Kräfte der Natur stand. Jane war das genauso be-wusst wie Dan. Sie wollten zusammen in diesen Krieg ziehen.
Und sie war darin umgekommen.
Soll ich weitermachen?, fragte Dan sich. Was hat das noch für einen Zweck? Ihm war zum Weinen zumute, aber die Tränen kamen nicht.
Dan Randolph hatte immer schon größer gewirkt als seine tatsächliche Körpergröße. Er war ein robust gebautes Weltergewicht und noch immer gut in Form. Weil er aber schon in den Sechzigern war, musste er sich in der Sporthalle schinden, um die Kondition aufrechtzuerhalten. Das einst sandfarbene Haar war fast völlig grau; das Personal nannte ihn hinter seinem Rücken ›Silberfuchs‹. Er hatte das Gesicht eines Boxers mit einem kräftigen Kinn und einer Nase, die man ihm vor Jahren platt geschlagen hatte, als er noch Bauarbeiter im Weltraum gewesen war. Trotz des ganzen Reichtums, den er seit jenen frühen Tagen angehäuft hatte, hatte er sich die Nase nie richten lassen. Für manche war das ein perverser Ausdruck von Machismo. Die hellgrauen Augen, die oft vergnügt gefunkelt hatten wegen der Dummheit der Menschen, waren nun matt und traurig.
Ein akustisches Signal ertönte, und der Monitor eines Computers wuchs langsam und lautlos aus dem Tisch.
Dan drehte sich auf dem Stuhl zum Bildschirm um. Seine junge Verwaltungsassistentin schaute ihn mit ernstem Gesicht an. Die aus Caracas gebürtige Teresa war groß, langbeinig und hatte einen schokoladenbraunen Teint, dazu dunkelbraune Mandelaugen und dichtes, schimmerndes mitternachtsschwarzes Haar.
Vor ein paar Jahren hätte Dan noch versucht, sie ins Bett zu bekommen und wäre wahrscheinlich auch erfolgreich gewesen. Doch nun war er einfach nur verärgert, weil sie ihn aus seinen Erinnerungen riss.
»Es ist gleich Zeit zum Abendessen«, sagte sie.
»Na und?«
»Martin Humphries wartet schon den ganzen Tag auf Sie. Zack Freiberg bittet darum, dass Sie diesen Mann zu einem Gespräch empfangen.«
Dan verzog das Gesicht. Zack war der Erste gewesen, der Dan vor dem drohenden Klimakollaps gewarnt hatte.
»Nicht heute, Teresa«, sagte er. »Ich will heute niemanden sehen.«
Die junge Frau zögerte für einen Moment und fragte dann zaghaft, beinahe furchtsam: »Soll ich Ihnen das Essen auf einem Tablett bringen?«
Dan schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht hungrig.«
»Sie müssen aber etwas essen.«
Er schaute auf ihr Bild auf dem Monitor. Sie war überaus besorgt und fürsorglich und schien wirklich zu befürchten, dass ihr Chef das Zeitliche segnete. Aber er spürte Zorn in sich aufsteigen, eine sinnlose blinde Wut.
»Nein, in Dreiteufels Namen«, herrschte er sie an. »Sie müssen etwas essen. Ich kann gottverdammt tun und lassen, was ich will, und wenn Sie an Ihrem Job hängen, sollten Sie mich, zum Teufel, in Ruhe lassen.«
Sie riss die Augen auf und öffnete den Mund, sagte aber nichts. Dan schnippte mit dem Finger, und der Bildschirm wurde schwarz. Noch ein Fingerschnippen, und er verschwand in der Nische in der Tischplatte aus poliertem Rosenholz.
Dan lehnte sich im Stuhl zurück und schloss die Augen. Er versuchte die Erinnerungen aus dem Bewusstsein zu verbannen, aber das war unmöglich.
Er hatte so kühne Visionen gehabt. Schon klar, ein oder zwei Jahrhunderte globaler Erwärmung würden zu einem Klima-Kollaps führen. Keine allmähliche Erwärmung, sondern ein plötzlicher, abrupter Wechsel des Erdklimas. Die in den Weltmeeren gespeicherte latente Wärme würde schlagartig in die Atmosphäre entweichen. Die Eiskappen am Nordpol und in der Antarktis würden abschmelzen. Der Meeresspiegel würde über ein, zwei Jahrzehnte stark ansteigen. Heftige Stürme würden in schneller Folge toben. Die klimatischen Änderungen würden Ackerland in Wüste verwandeln.
Was soll's? Wir werden die Ressourcen des Alls zur Lösung dieser Probleme nutzen. Energie? Wir werden Solarkraftwerke bauen und Energie aus dem All an jeden Ort abstrahlen, wo sie benötigt wird. Rohstoffe? Wir werden den Mond und die Asteroiden ausbeuten; es gibt dort mehr Bodenschätze als auf der ganzen Erde. Lebensmittelproduktion?
Nun, das wäre allerdings ein Problem. Das ist uns allen bekannt. Aber mit genügend Energie und Rohstoffen könnten wir die landwirtschaftlichen Anbaugebiete bewässern, die durch die Klimaänderung zur Wüste geworden sind.
Ja, sicher. Und was haben wir getan, als die Hälfte der Weltstädte überflutet wurde? Was hätten wir zu tun vermocht? Was haben wir getan, als die Stromversorgung zusammenbrach? Als Erdbeben und Springfluten Japans industrielle Kapazität zerstörten, was haben wir da getan? Rein gar nichts. Und als dieses Erdbeben den Mittleren Westen platt gemacht hat, was taten wir da? Wir versuchten den Überlebenden zu helfen, und Jane ist bei diesem Versuch ums Leben gekommen.
Die Tür zum Büro wurde aufgestoßen, und ein hünenhafter rotbärtiger Mann kam herein. Er trug ein mit kunstvollen Schnitzereien verziertes Teakholztablett, das mit dampfenden Speisen beladen war. In seinen Pranken wirkte das Tablett wie ein Utensil aus einer Puppenküche.
»Teresa sagt, dass du was essen musst«, vermeldete er in einem lieblichen Tenor und stellte das Tablett auf Dans Schreibtisch ab.
»Ich sagte ihr doch, dass ich keinen Hunger habe.«
»Du kannst dich nicht zu Tode hungern. Iss was.«
Dan warf einen Blick aufs Tablett. Eine Schüssel mit dampfender Suppe, ein Salat, ein Hauptgang, der sich unter einer Edelstahlglocke verbarg, und eine Kanne Kaffee. Kein Wein. Nichts Alkoholisches.
Er schob dem rothaarigen Riesen das Tablett zu. »Iss du das, George.«
Big George zog einen Stuhl an den Schreibtisch, schaute seinem Boss in die Augen und schob das Tablett wieder zu Randolph.
»Iss«, sagte er. »Das tut dir gut.«
Dan erwiderte den Blick von George Ambrose. Er kannte Big George, seit es ihn als Flüchtling auf den Mond verschlagen hatte und er sich mit einer Schar Renegaten, die sich selbst ›Mond-Untergrund‹ nannten, vor den Behörden von Selene-City versteckt hatte. Big George war nun Dans Leibwächter und trug maßgeschneiderte Anzüge statt geflickter Overalls, aber er wirkte noch immer wie ein halbwilder Grenzer: Er sah aus wie Rübezahl, wie die Art von Mann, der einem mit einem Lächeln den Kopf zwischen die Schultern klopft und das nicht einmal persönlich meint.