Nachdem der Ober das Dessert serviert und sich vom Tisch entfernt hatte, sagte Cardenas schließlich: »Gut, wenn Sie es ihnen nicht sagen wollen, dann werde ich es eben tun.«
»Das hatten wir aber nicht abgemacht«, sagte Humphries gepresst.
»Zum Teufel mit unserer Abmachung! Ich weiß gar nicht, wieso ich mich von Ihnen dazu habe überreden lassen.«
»Sie haben sich von mir dazu überreden lassen, weil ich imstande bin, Sie unter falschem Namen nach Kalifornien zurückzubringen und durch die Einwanderungsbehörde und den Zoll zu schleusen, um Ihnen ein Wiedersehen mit Ihren Kindern und Enkelkindern zu ermöglichen. Sie haben sogar die Möglichkeit, Ihren Ex-Mann zu besuchen.«
»Er hat wieder geheiratet«, sagte sie bitter. »Es hat keinen Sinn, sein Leben noch mehr zu komplizieren, als ich es ohnehin schon getan habe.«
Humphries lächelte beinahe. Sie ist wirklich voll auf dem Schuld-Trip, sagte er sich.
»Aber Ihre Enkelkinder«, lockte er. »Sie wollen sie doch sehen, nicht wahr? Wenn Sie es vorziehen, könnte ich es auch arrangieren, dass sie hierher kommen.«
»Ich habe sie schon gefragt, ob sie zu Besuch kommen wollen. Angefleht habe ich sie«, sagte Cardenas. »Aber sie wollten nicht. Sie befürchten, dass ihnen die Wiedereinreise auf die Erde verweigert wird. Dass sie hier im Exil leben müssten wie ich.«
»Ich kann einen Besuch arrangieren«, sagte Humphries. »Außerhalb der normalen Kanäle. Ich garantiere Ihnen, dass sie nach Hause zurückkehren dürfen.«
Er sah neue Hoffnung in ihren Augen aufflackern. »Sie könnten das wirklich tun?«
»Kein Problem.«
Sie saß schweigend da, während das Eis, das es als Dessert gab, langsam schmolz. Humphries löffelte seins und schaute sie erwartungsvoll an.
»Aber Sie wissen doch, wie gefährlich das ist«, platzte sie schließlich heraus. »Sie fliegen am Mars vorbei, um Gottes willen. Dort gibt es keine Rettung für sie.«
»Randolph ist doch kein Narr«, sagte er scharf. »Wenn die Systeme des Schiffs ausfallen, wird er umkehren und hierher zurückfliegen. Ruckzuck.«
»Ich weiß nicht…«
»Und seine Pilotin ist eine Expertin. Sie wird kein Risiko eingehen.«
Cardenas hörte ihm entweder nicht zu, oder sie hatte ihn überhaupt nicht gehört. »Wenn diese Nanos erst einmal aktiv werden«, sagte sie, »dann gibt es kein Halten mehr. Sie werden den Strahlungsschild auseinander nehmen, Atom für Atom, und dann…«
»Dazu werden sie gar keine Zeit haben«, sagte Humphries. »Sie vergessen nämlich, wie schnell die Starpower ist. Sie werden in ein paar Tagen wieder hier sein.«
»Trotzdem…« Cardenas schien alles andere als überzeugt.
»Schauen Sie, ich weiß, dass ich ein schmutziges Spiel mit Randolph treibe«, sagte Humphries betont cool. »Aber so läuft das eben in der Geschäftswelt. Ich will, dass seine Mission scheitert, um seine Firma billig aufzukaufen. Ich will ihn aber nicht umbringen! Ich bin schließlich kein Mörder.«
Noch nicht, sagte er sich. Aber ich werde zum Mörder werden. Und ich werde auch diese Frau zum Schweigen bringen müssen, bevor ihre Schuldgefühle sie dazu treiben, Randolph zu warnen.
Urplötzlich schoss der Gedanke an Amanda ihm durch den Kopf. Doch das bestärkte ihn nur in seiner Entschlossenheit. Er treibt mich dazu, sie zu töten. Randolph verdient es zu sterben. Er zwingt mich dazu, auch Amanda zu töten.
Er blickte über den Tisch auf Kris Cardenas, die wie ein Häufchen Elend dasaß. Wenn ich sie gehen lasse, wird sie Randolph warnen. Sie wird alles ruinieren. Das darf ich nicht zulassen.
Sonnensturm
Bei der Planung der Apollo-Missionen zum Mond, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts stattgefunden hatten, waren die Perioden ausgeklammert worden, in denen die Sonne mit größter Wahrscheinlichkeit Protuberanzen ins All geschleudert und das Sonnensystem mit tödlichen Dosen harter Strahlung durchdrungen hätte.
Später gingen Raumschiffe, die zwischen der Erde und dem Mond pendelten, bei einem Sonnensturm einfach in ›Deckung‹. Sie flohen entweder in den Schutz, den das Erdmagnetfeld gegen den Protonen- und Elektronenhagel des Sturms bot, oder sie landeten auf dem Mond, und die Besatzungen suchten unter der Oberfläche Schutz.
Die ersten Raumschiffe, die Menschen aus dem Erde-Mond-System hinaustrugen, mussten sich aber anders behelfen, denn die Flugdauer zum Mars war so lang, dass sie unweigerlich in einen Sonnensturm gerieten — Wochen oder Monate von einem rettenden Hafen entfernt. Deshalb waren sie mit Sturmbunkern ausgestattet, speziellen Abteilen, in denen die Besatzung vor der starken Strahlung aus den Protuberanzen geschützt war. Die ersten Forscher, die zum Mars flogen, verbrachten viele Tage im beengten ›Sturmkeller‹ ihres Raumschiffs, bis die hochenergetischen Teilchen der Plasmawolke des Sturms sich endlich zerstreut hatten.
Die Starpower I hatte keinen Sturmkeller. Vielmehr war das gesamte Besatzungsmodul wie ein Sturmkeller geschützt. Das Modul war mit dünnen Drähten einer exotischen Verbindung auf Yttrium-Basis ausgekleidet, die einen supraleitenden Magneten bildeten, der wiederum ein permanentes Magnetfeld ums Besatzungsmodul legte — gleichsam eine Miniaturversion des Erdmagnetfelds. Dennoch vermochte der Supraleiter kein hinreichend starkes Magnetfeld zu erzeugen, um die gefährlichsten Teilchen eines Sonnensturms abzulenken: die hochenergetischen Protonen.
Wenn das Schiff durch eine Wolke tödlicher subatomarer Teilchen flog, die von Protuberanzen ausgestoßen wurden, wurde es mit zwei Elektronenkanonen auf ein hohes positives elektrostatisches Potential aufgeladen. Die energiereichen Protonen in der Wolke wurden vom positiv geladenen Schiff abgestoßen. Das Magnetfeld war allerdings stark genug, um die leichteren, weniger energiereichen Elektronen der Wolke abzulenken — wodurch zugleich verhindert wurde, dass die negativ geladenen Elektronen die positive Ladung des Schiffs neutralisierten.
In der Hülle des schützenden Magnetfelds beobachtete die Besatzung der Starpower I die schnell sich nähernde Plasma-Wolke des Sturms.
»Sie wird in sechs Stunden hier sein«, sagte Pancho, nahm das Kopfbügelmikrofon ab und drehte sich auf dem Pilotensitz zu Dan um.
Er runzelte die Stirn, als er die Kunde vernahm. »Bist du dir sicher?«
»So sicher, wie ich mir nur sein kann. Das Frühwarn-Raumschiff im Merkur-Orbit hat die Wolke identifiziert. Sie wird uns überrollen, es sei denn, das interplanetare Feld ist irgendwie gestört.«
»Die Elektronen-Kanonen sind einsatzbereit«, sagte Dan mit einem Kopfnicken.
»Solltest sie besser jetzt schon scharfmachen«, sagte sie. »Es bringt nichts, bis zur letzten Minute zu warten.«
»Richtig.« Dan schlüpfte durch die Luke in die leere Messe und ging zum Heck, wo die Elektronen-Kanonen montiert waren. Pancho vermochte sie auch von der Brücke aus zu bedienen, aber Dan wollte vor Ort sein für den Fall, dass Probleme auftraten.
»Und schick Amanda rauf, ja?«, rief Pancho ihm nach. »Ich muss mal Pause machen.«
»Alles klar«, rief Dan über die Schulter.
Wo steckt Amanda überhaupt?, fragte er sich. In der Messe war sie jedenfalls nicht. Die Türen zu den Privatkabinen entlang des Durchgangs waren geschlossen. Und wo ist Fuchs? Langsam wurde er ungehalten.
Er fand sie beide in der Instrumentenbucht, wo Fuchs ihr gerade den Röntgenprojektor erklärte.
»Es wäre besser, wenn wir eine kleine nukleare Vorrichtung verwendeten«, sagte der Astronom, als könne er kein Wässerchen trüben. »Das wäre die effizienteste Möglichkeit, Röntgen- und Gammastrahlen gleichzeitig zu erzeugen. Aber natürlich sind Nukleargeräte nicht erlaubt.«
»Natürlich«, sagte Amanda und schaute genauso konzentriert wie Fuchs.