»Pancho braucht dich auf der Brücke, Mandy«, sagte Dan.
Für einen Sekundenbruchteil wirkte sie erschrocken. »In Ordnung«, sagte sie dann.
»Wozu in aller Welt brauchst du einen nuklearen Sprengsatz?«, fragte Dan Fuchs, während Amanda zur Brücke lief.
»Ich brauche gar keinen!«, erwiderte Fuchs. »Die sind illegal, und zu Recht.«
»Aber du sagest doch gerade…«
»Ich hatte Amanda die Röntgen-Spektroskopie erklärt. Wie wir mit Röntgenstrahlen einen Asteroiden zum Fluoreszieren bringen, um seine chemische Zusammensetzung ermitteln. Die Röntgenstrahlen dieser Protuberanzen wären sehr nützlich für uns, wenn wir uns schon nah genug am Gürtel befänden.«
»Aber ein nuklearer Sprengsatz?«
Fuchs breitete die Arme aus. »Nur ein Beispiel für die bedarfsgerechte Erzeugung von Röntgen- und Gammastrahlen. Ein bloßes Beispiel. Ich hatte nicht die Absicht, nukleares Material in den Weltraum einzutragen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Dan und kratzte sich am Kinn. »Du hast mich da auf eine Idee gebracht. Vielleicht könnten wir die IAA davon überzeugen, uns den Einsatz von nuklearem Sprengstoff als Quelle für spektroskopische Untersuchungen zu erlauben.«
Fuchs schaute konsterniert. Dan lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Schließlich begriff Fuchs, dass Dan sich einen Scherz erlaubt hatte und lächelte zögerlich.
Dans Stimmung trübte sich ein, während er den engen Gang im hinteren Ende des Moduls entlangging. Der Gedanke, harter Strahlung ausgesetzt zu sein, gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hatte in der Vergangenheit, als er noch im Weltraum arbeitete, schon eine Strahlungsdosis aufgenommen, die einer lebenslangen Gesamtbelastung entsprach. Wenn er sich noch weiteren Strahlungsdosen aussetzte, würde ihn das umbringen. Ganz zu vermeiden war das aber auch nicht. Es war ein echtes Dilemma.
Vielleicht hat Stavenger Recht, sagte Dan sich, als er die Verkleidung der Elektronen-Kanonen abnahm und sie zum elften Mal kontrollierte, seit sie aus dem Mondorbit ausgeschert waren. Ich sollte mir eine Spritze mit Nanomaschinen geben lassen. Sie würden die Schäden beseitigen, die die Strahlung verursacht hat, und mich einer Generalüberholung unterziehen. Allerdings dürfte ich dann nicht mehr zur Erde zurückkehren. Aber was soll's? Es gibt ohnehin nichts mehr dort unten, was ich vermissen würde. Oder?
Er wusste die Antwort schon, während er noch die Fragen stellte. Die Meeresbrise. Den blauen Himmel und malerische Sonnenuntergänge. Vögel am Himmel. Blumen. Große, hässliche und brutale Städte, in denen das Leben pulsierte. Weinberge! Dan wurde sich plötzlich bewusst, dass noch niemand versucht hatte, im Weltraum Weintrauben zu züchten. Vielleicht werde ich als Ruheständler sesshaft werden und mich als Winzer versuchen.
Aus dem Lautsprecher, der in die Decke des schmalen Gangs integriert war, drang Panchos Stimme: »Dan, bist du so weit, dass ich die Kanonen scharfmachen kann?«
Die Elektronenkanonen waren in dem gleichen guten Zustand wie all die anderen Male, als er sie überprüft hatte. Dan schloss die Abdeckung der Kanone zur Rechten und sagte: »Du kannst jederzeit feuern, Gridley.«
»Ich weiß zwar nicht, wer dieser Gridley ist«, erwiderte Pancho, »aber ich werde die Kanonen erst anfahren, wenn du beide Abdeckungen geschlossen und ordnungsgemäß verriegelt hast.«
»Aye, aye, Skipper«, sagte Dan.
Als er wieder auf die Brücke zurückkehrte, war von Pancho nichts zu sehen. Amanda saß allein auf dem rechten Platz und beschallte die Brücke mit lauter Popmusic. Als sie Dan durch die Luke kommen sah, stellte Amanda die Musik sofort ab.
»Pancho ist auf dem Lokus«, sagte sie, als Dan sich auf den Pilotensitz setzte.
»Was macht der Sturm.«
»Kommt direkt auf uns zu.« Amanda tippte auf einen ihrer Touchscreens; er zeigte eine schematische Karte des inneren Sonnensystems, auf der die Orbits von Erde und Mars als eine blaue beziehungsweise rote Linie dargestellt wurden. Die Position der Starpower I wurde durch einen blinkenden gelben Punkt markiert. Eine windschiefe grüne Fläche touchierte den Punkt fast.
Dan bekam einen trockenen Mund. »Ich hasse diese Dinger«, nuschelte er.
»Die Front ist an der Erde vorbeigezogen. Am Mars auch.«
»Aber uns wird sie voll erwischen.«
»Sie wird uns nur streifen«, sagte Amanda. »Es wird nur ein paar Stunden dauern.«
»Das ist gut.«
»Unsere Geschwindigkeit kommt uns zugute, wissen Sie. Ein normales Raumschiff würde bei der geringen Geschwindigkeit tagelang in der Wolke stecken.«
Dan legte freilich keinen Wert darauf, auch nur für zehn Minuten in die Wolke zu geraten. Er wechselte das Thema, um die in ihm aufsteigende Angst zu verdrängen und weil er sich überhaupt nicht mehr damit befassen wollte. »Wie steht es zwischen dir und Fuchs?«
Amanda zog die Brauen hoch. »Lars? Es ist ihm sehr ernst — mit seiner Arbeit. Sonst nichts.«
»Ist das alles?«
»Ja.«
Dan ließ sich das durch den Kopf gehen. Zwei gesunde junge Menschen, die für ein paar Wochen in dieser Sardinenbüchse eingesperrt waren. Natürlich werden Pancho und ich sie im Auge behalten. Dan grinste. Verdammt, als ob ich der Vater eines Teenagers wäre.
Pancho kam auf die Brücke zurück. »He Boss, runter von meinem Stuhl.«
»Jawohl«, sagte Dan.
Die Plasmawolke schlug in weniger als einer Stunde über ihnen zusammen. Es gab keine Turbulenzen, und es wurde auch kein Alarm ausgelöst — nichts, das ihnen gesagt hätte, dass sie von der Wolke aus tödlicher Strahlung umhüllt wurden außer den ansteigenden feuerroten Kurven auf den Monitoren für die Strahlungsüberwachung.
Pancho hielt den Sturm für nicht so gefährlich, dass die Brücke die ganze Zeit besetzt sein musste. Sie ging in die Messe und aß mit den anderen zu Abend. Dan aß mechanisch; er wusste gar nicht, was er eigentlich aß und beteiligte sich auch nicht an der Unterhaltung. Die gottverdammte Strahlung, sagte er sich immer wieder. Ich hasse sie. Trotz zwei Tassen heißen Kaffees fror er innerlich.
Aber die anderen schienen sich wegen des Sturms überhaupt keine Sorgen zu machen. Nach dem Essen wünschte er ihnen eine gute Nacht und ging in seine Kabine. Er träumte davon, hilflos im Weltraum zu driften und unter dem bösen Blick der Sonne langsam zu erfrieren.
Nanotech-Labor
Noch lange nach Mitternacht saß Kris Cardenas allein in ihrem Büro in Selenes Nanotechnik-Labor, das lediglich von der Nachtbeleuchtung erhellt wurde.
Sie hatte sich nur aus dem Grund mit Martin Humphries zum Abendessen verabredet, um den Mann zu veranlassen, Dan Randolph vor den Nanomaschinen zu warnen, die sie in sein Schiff eingepflanzt hatte. Es handelte sich um virengroße Disassembler, die früher als Gobbler bezeichnet wurden.
Sie waren auch der Grund, weshalb die Nanotechnik auf der Erde geächtet war — und auch in Selene nur mit strikten Auflagen zugelassen war.
Quis custodiet ipsos custodes?, fragte sie sich. Wer passt auf die Aufpasser auf? Cardenas wusste, dass schon die alten Römer vor über zweitausend Jahren sich diese Frage gestellt hatten.
Die Nanotechnik-Arbeiten waren in Selene sehr strengen Kontrollen unterworfen. Und die Arbeit mit Gobblern war strikt verboten: Sie hatten schon Menschen getötet und waren sogar als Mordwerkzeug eingesetzt worden. Losgelassen würden sie ganz Selene vernichten. Die medizinische Arbeit musste auch bis in den Nanometer-Bereich kontrolliert werden, weil die therapeutischen Nanobots, die Arterien von Ablagerungen befreiten oder Tumore zerstörten, im Grunde auch eine Art Gobbler waren. Wenn ihre Programmierung auch nur minimal verändert würde, wenn sie jemals ausbrachen…
Deshalb bestand Kris Cardenas' Hauptaufgabe als Leiterin aller Nanotechnik-Arbeiten in Selene darin, eine solche Katastrophe zu verhindern. Sie überwachte jeden Aspekt der Arbeit, die im Nanotechnik-Labor geleistet wurde.