»Der Bereich dort unten ist das Eigentum des Humphries Trust«, sagte Maas. »Selene ist nicht befugt, dort eine Hausdurchsuchung vorzunehmen.«
»Nicht einmal, wenn sie in Lebensgefahr ist?«, fragte George.
»Rick, ich glaube, Sie werden eine Suchaktion in die Wege leiten müssen«, sagte Stavenger zu Maas.
»In Humphries' Anwesen?«, fragte George.
»In Selene«, sagte Stavenger. »Humphries' Anwesen ist eine andere Sache.« Er drehte sich zum Telefon um und ließ sich zu Martin Humphries durchstellen.
»Dr. Cardenas?«, sagte Martin Humphries zu Stavengers Konterfei auf dem Wandbildschirm.
»Ja«, sagte Stavenger mit gequältem Blick. »Sie wird vermisst.«
Humphries erhob sich von der Chaiselongue, auf der er gelegen hatte, während er seines Vaters Holdings in Libyen überprüft hatte.
»Ich verstehe nicht«, sagte er in gekünstelter Verwirrung zu Stavengers Bild. »Wieso erzählen Sie mir das überhaupt?«
»Das Sicherheitsbüro hat in ganz Selene eine Suchaktion nach ihr gestartet. Ich würde es begrüßen, wenn auch Sie einer Durchsuchung Ihres Anwesens zustimmten.«
»Ich soll mein Haus durchsuchen lassen?«
»Es ist eine reine Formalität, Mr. Humphries«, sagte Stavenger mit einem offensichtlich aufgesetzten Lächeln. »Sie kennen doch die Sicherheitstypen: Bei ihnen muss immer alles bis aufs i-Tüpfelchen stimmen.«
»Ja, so sind sie eben«, erwiderte Humphries ebenfalls mit einem Lächeln. »Vielleicht hält sich jemand im Garten versteckt, nicht wahr?«
»Oder im Haus. Es ist schließlich recht groß.«
»Hmm, ja. Das ist es wohl — zumindest nach den Standards von Selene.« Er holte tief Luft und sagte dann zögerlich: »Also gut, sollen sie ein Team hier runterschicken. Ich habe keine Einwände.«
»Danke, Sir.«
»Gern geschehen«, sagte Humphries und brach die Verbindung mit einem Fingerschnippen ab. Dann ging er ins Büro.
Er schnippte mit den Fingern, als er das Büro betrat. Der Telefonmonitor erhellte sich. »Blyleven soll sofort hierher kommen. Ich habe einen Job für ihn.«
Mare Nubium
Die Zugmaschine rumpelte langsam durch die öde, leere Weite des Mare Nubium und entfernte sich dabei stetig vom Ringwall-Gebirge, das Alphonsus und den Standort von Selene markierte.
Kris Cardenas versuchte, die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Sie spürte sie tief in sich rumoren und in der Kehle aufsteigen. Sie hatte Herzrasen und hörte das Blut in den Ohren rauschen.
»Wohin bringen Sie mich?«, fragte sie. Die Stimme wurde vom Helm des Raumanzugs gedämpft, in den man sie gesteckt hatte.
Keine Antwort vom Fahrer. Natürlich, sagte Cardenas sich. Sie haben das Funkgerät des Anzugs stillgelegt. Ein praktischer Hightech-Knebel.
Die beiden Handlanger, von denen sie in der Nacht zuvor abgefangen worden war, hatten sie in Humphries extravagantes Anwesen auf Selenes unterster Ebene gebracht. Martin Humphries hatte zwar nicht geruht, sie zu sehen, aber sie wusste auch so, wessen Domizil das war. Die Bediensteten waren sehr höflich gewesen. Sie hatten ihr zu essen und zu trinken angeboten und sie in einer komfortablen Gästesuite untergebracht, wo sie die Nacht verbracht hatte. Die Tür auf den Gang war natürlich verschlossen. Sie war eine Gefangene, auch wenn die Zelle noch so luxuriös war.
Merkwürdigerweise hatte sie dennoch gut geschlafen. Als sie jedoch am nächsten Morgen, nachdem eine Bedienstete ihr ein Frühstückstablett ins Wohnzimmer gebracht hatte, über ihre Situation nachdachte, gelangte Cardenas zu dem Schluss, dass Humphries sie umbringen würde. Er wird mich umbringen müssen, sagte sie sich. Er kann mich nicht einfach gehen und überall herumerzählen lassen, dass er Dan Randolph getötet hat.
Mit meiner Hilfe, fügte sie hinzu. Ich bin eine Mord-Komplizin. Eine blinde und sture Närrin, die nicht sah, was sie nicht sehen wollte. Nicht, bis es zu spät war.
Und nun werde ich auch ermordet. Aus welchem Grund sollten sie mich sonst so weit in die gottverlassene Wildnis hinausbringen?
Der Gedanke an den Tod machte ihr Angst — verstandesmäßig. Aber der Aufenthalt auf der Mondoberfläche, im tödlichen Vakuum mit der ganzen Strahlung, die aus dem All herabregnete, verursachte ihr darüber hinaus eine kreatürliche Angst. Die kleine Zugmaschine hatte weder eine Druckkabine noch ein Besatzungsmodul; man musste einen Raumanzug anlegen, um hier draußen auch nur eine Minute zu überleben.
Das ist eine tote Welt, sagte sie sich beim Blick durchs Helmvisier. Die graue Oberfläche war absolut tot, außer den Kettenspuren der anderen Zugmaschinen, die hier schon entlanggefahren waren. Weder Wind noch Wetter würden diese Spuren verwischen; sie würden Bestand haben, bis der Mond selbst zerbröselte. Hinter ihnen sank ein Staubschweif träge in der geringen Mondschwerkraft zu Boden.
Und vor ihnen gab es nichts außer der sanft gewellten Ebene aus Geröll. Sie war mit Kratern übersät, die teils die Größe eines Fingerhuts hatten und teils so groß waren, dass die Zugmaschine in ihnen versunken wäre. Überall waren Felsbrocken verstreut, als ob ein Riesenbaby sein Spielzeug achtlos weggeworfen hätte.
Der Horizont war beklemmend nah. Das setzte Cardenas noch mehr zu. Es wirkte unstimmig und bedrohlich. Im luftlosen Vakuum gab es keinen Dunst, der entfernte Landmarken weich zeichnete. Dieser jähe Horizont durchschnitt das Blickfeld wie die Abbruchkante einer Klippe.
Sie sah, dass das Ringwall-Gebirge von Alphonsus fast schon hinterm Horizont verschwunden war.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie erneut, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war.
Frank Blyleven neben ihr war das Grinsen vergangen. Er fuhr die Zugmaschine und schwitzte im Raumanzug. Durch die Vereinbarung, die er mit Martin Humphries getroffen hatte, ermöglichte er Humphries nichts weniger als den Zugang zum Kommunikationsnetzwerk der Astro Corporation. Ein schöner Batzen Geld, ohne dass er ein Risiko eingehen musste. Und nun chauffierte er noch eine entführte Nobelpreisträgerin, um Gottes willen! Dafür würde Humphries noch was drauflegen müssen.
Blyleven musste sich freilich eingestehen, dass Humphries ziemlich clever war. Stavenger lässt Dr. Cardenas suchen. In Ordnung. Wer hätte sie unauffälliger für eine Weile aus Selene herauszubringen vermocht als der Leiter des Astro-Sicherheitsdiensts? Niemand stellte Fragen, als er schon mit einem Raumanzug bekleidet in der Garage aufkreuzte und von einer weiteren Person begleitet wurde, die auch schon einen Raumanzug angelegt hatte.
»Ich muss die Funkantennen draußen in Nubium inspizieren«, sagte er der Wache, die die Zugmaschinen durchcheckte. »Wir werden etwa sechs Stunden wegbleiben.«
Natürlich, denn nachdem sie drei Stunden ziellos durch das mare gefahren waren, erhielt er einen Funkspruch von Humphries' Leuten. »Okay, bring sie zurück.«
Nun vermochte er wieder zu lächeln. Er legte seinen Helm gegen Cardenas', sodass sie ihn durch Schallübertragung zu hören vermochte.
»Wir fahren zurück«, sagte er. »Sie werden von einem Team empfangen. Sie benehmen sich, wenn wir wieder in der Garage sind.«
Kris Cardenas wurde von einem Gefühl der Dankbarkeit überwältigt. Wir fahren zurück. Bald sind wir wieder in der Sicherheit der Stadt.
Doch dann wurde sie sich bewusst, dass sie noch immer Humphries' Gefangene und alles andere als in Sicherheit war.
Wütend las Dan Georges Bericht auf dem Wandbildschirm der Messe des Schiffs.
»Ich hatte mich an der Durchsuchung von Humphries' Haus beteiligt. Es ist groß genug, um ein Dutzend Leute zu verstecken. Wir fanden weder Dr. Cardenas selbst noch eine Spur von ihr«, schloss George verdrießlich.
»Aber vielleicht ist sie doch noch am Leben«, sagte Dan und stieß ungeduldig die Luft aus, als er sich bewusst wurde, dass George die Antwort erst in zwanzig Minuten oder so hören würde.