Schließlich schien Stavenger den inneren Kampf zu gewinnen. Er holte tief Luft und sagte dann mit gefährlich leiser Stimme: »Ich werde die Sache an die Justizbehörden von Selene übergeben. Sie beide werden die Stadt nicht verlassen, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind.«
»Sie wollen uns vor Gericht stellen?«, fragte Cardenas.
»Wenn es nach mir ginge«, sagte Stavenger, »dann würde ich Sie beide in undichte Raumanzüge stecken, mit Ihnen ins Mare Nubium hinausfahren und Sie dort aussetzen.«
Humphries lachte. »Bin ich froh, dass Sie kein Richter sind. Außerdem gibt es in Selene gar keine Todesstrafe, nicht wahr?«
»Noch nicht«, knurrte Stavenger. »Wenn aber noch ein paar Leute wie Sie hier auftauchen, werden wir in dieser Hinsicht wohl die Gesetze ändern.«
Humphries erhob sich. »Sie können mir drohen, so viel Sie wollen, ich glaube nicht, dass Ihre Gerichte das so persönlich nehmen werden wie Sie.«
Sprach's und ging zur Tür. George trat zur Seite, sodass Humphries die Tür selbst öffnen musste. Als Humphries das Büro verließ, sah George, dass er einen dünnen Schweißfilm auf der Oberlippe hatte.
Die Tür hatte sich kaum geschlossen, als Cardenas in Tränen ausbrach. Sie saß vornübergebeugt im Sessel und hatte das Gesicht in den Händen vergraben.
Stavengers eisige Fassade schmolz. »Kris… wie konnten Sie das nur tun? Wie konnten Sie zulassen, dass er… ?« Er hielt inne und schüttelte den Kopf.
»Ich war wütend«, sagte Cardenas mit tränenerstickter Stimme, ohne zu ihm aufzusehen. »Ich war wütend Doug. Sie haben überhaupt keine Vorstellung, wie wütend. So wütend, wie ich es selbst nicht für möglich gehalten hätte.«
»Wütend? Auf Randolph?«
»Nein. Auf sie. Die Verrückten, die zulassen, dass der Klimakollaps die Erde zerstört. Die Fanatiker, die uns ins Exil geschickt haben und die es mir verwehren, zur Erde zurückzukehren und meine Enkelkinder zu sehen. Ich wollte sie bestrafen und es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen.«
»Indem Sie Randolph töten?«
»Dan versucht ihnen zu helfen«, sagte sie und schaute nun mit verweintem Gesicht zu ihm auf. »Ich will aber nicht, dass ihnen geholfen wird! Sie sind für diesen Schlamassel verantwortlich. Sie haben mich aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen. Sollen sie im eigenen Saft schmoren! Was auch immer ihnen widerfährt, sie haben es verdient.«
Stavenger schüttelte verwirrt den Kopf. Er gab Cardenas ein Taschentuch, und sie tupfte sich die geröteten Augen ab.
»Ich werde empfehlen, Sie unter Hausarrest zu stellen, Kris. Sie haben völlige Bewegungsfreiheit in Selene, halten sich aber vom Nanotech-Labor fern.«
Sie nickte stumm.
»Und Humphries?«, fragte George, der noch immer an der Tür stand.
»Für den gilt wohl das Gleiche. Aber er hat schon Recht, der selbstgefällige Schleimbeutel. Wir haben in Selene keine Todesstrafe — wir haben nicht einmal ein Gefängnis.«
»Hausarrest wäre Pipifax für ihn«, sagte George.
Stavenger schaute missmutig. Doch dann hob er das Kinn und sagte mit leuchtenden Augen: »Es sei denn, wir packen ihn am Geldbeutel.«
»Ha?«
Ein Lächeln breitete sich in Stavengers jugendlichem Gesicht aus, und er sagte: »Falls er des Mordes oder auch nur des versuchten Mordes für schuldig befunden wird, zieht das Gericht vielleicht seinen Anteil an Starpower ein und hindert ihn an der Übernahme der Astro Corporation.«
»Ich würde ihn lieber zum Krüppel schlagen«, sagte George schnaubend.
»Das würde ich auch gern«, gestand Stavenger. »Aber ich glaube, er ließe sich wirklich eher zum Krüppel schlagen, als dass er Astro und Starpower aufgeben würde.«
Zuflucht
»Da ist er«, sagte Pancho. »Wie sieht es mit der Navigation aus?«
Dan duckte sich leicht hinter den Pilotensitz und schaute durchs Fenster. Der Asteroid war nun auch mit bloßem Auge vorm Hintergrund des fernen Glühens des Zodiakallichts der Sonne zu erkennen — eine hantelförmige Masse, die träge um die Querachse taumelte.
Fuchs stellte sich neben Dan und legte die Hände auf die Lehne von Amandas Sitz.
»Das sind zwei Kontakt-Körper«, sagte er. »Wie Castallia und noch ein paar andere.«
»Sieht aus wie eine Erdnuss«, sagte Dan.
»Eine Erdnuss aus Stein«, bemerkte Pancho.
»Nein, nein«, korrigierte Fuchs, »eine Erdnuss, bestehend aus Tausenden kleiner Steine, so genannter Chondrulen. Sie werden nur von der schwachen gegenseitigen gravitationalen Anziehung zusammengehalten.«
»Ach so.«
»Sehen Sie die Krater auf der Oberfläche?«
Dan schaute angestrengt hin. »Wie, zum Teufel, soll ich in diesem trüben Licht Krater auf diesem schwarzen Klumpen erkennen?«
»Sie haben keine Ränder«, fuhr Fuchs aufgeregt fort. »Kleinere Objekte sind mit dem Asteroiden kollidiert, aber sie haben keine Einschlagkrater wie auf einem massiven Körper hinterlassen. Sie haben sich einfach ins Geröll gebohrt.«
»Wie wir es auch vorhaben«, sagte Pancho.
»Unser Sturmkeller«, fügte Amanda hinzu und schaute zu Fuchs auf.
Nur wenn er Recht hat, wird das unser Sturmkeller, merkte Dan stumm an. Falls der Brocken da draußen wirklich ein Bohnensack ist und wir uns dort einzugraben vermögen, bis der Sturm vorbei ist.
»Wie lang noch, bis die Strahlung sich aufbaut?«, fragte er.
»Vier Stunden und ein paar Minuten«, sagte Pancho. »Noch genug Zeit.«
Hoffentlich, sagte Dan sich.
Sie gingen mit der Starpower I in einen engen Orbit um den taumelnden Asteroiden, und dann schwebten die vier schwerelos zur Luftschleuse hinunter, wo Dan und Fuchs bereits sechs Notfall-Sauerstoffflaschen bereitgestellt hatten. Als sie sich in die Raumanzüge zwängten, bat Fuchs, das Schiff als Erster verlassen zu dürfen, doch Dan lehnte das ab.
»Pancho geht zuerst, Lars. Du bist dort draußen noch ein Zartfuß.«
Man sah durch Fuchs' Kugelhelm, wie er verwirrt die Stirn runzelte. »Aber meine Füße sind doch in Ordnung«, sagte er. »Wieso machen Sie sich Sorgen wegen meiner Füße?«
Dan und Pancho lachten, doch Amanda warf Dan einen tadelnden Blick zu und sagte: »Das ist ein amerikanischer Ausdruck, Lars. Aus der Zeit des Wilden Westens.«
»Ja«, bestätigte Dan. »Ich hatte das mal von Buffalo Bill gehört.«
»Wir werden zusammen gehen, Lars und ich«, sagte Pancho. »Wenn ihr endlich mit dem Quatsch aufhört.«
»Aye, aye, Käpt'n«, sagte Dan und führte die behandschuhte Hand in einem saloppen Salut an den Helm.
Pancho und Fuchs gingen durch die Luftschleuse. Nachdem sie einen Zyklus durchlaufen hatte, folgten Dan und Amanda. Als die rasselnden Pumpen verstummten, hörte Dan Fuchs' Stimme im Helmlautsprecher: »Das ist wie ein Sandhaufen!«
Dan sandte ein Stoßgebet zu allen Göttern, die ihn hörten. Vielleicht überleben wir das doch.
Mit Amanda ging er durch die Luftschleuse und überbrückte mit dem Rückenaggregat die hundert Meter oder so, die das Schiff vom Asteroiden trennten. Er wirkt jedenfalls massiv, sagte Dan sich und schaute auf die schwarze taumelnde Masse, der er sich näherte. Und nun sah er auch ein paar randlose Krater; nur Löcher, als ob ein Riese mit den Fingern in den Asteroiden gestochen hätte.
Dann sah er Fuchs' Helm und Schultern; der Rest von ihm steckte in einer Art Grube. Er buddelt wie ein Kind im Sandkasten, sagte Dan sich.
Bei der Annäherung sah Dan, dass die Oberfläche des Asteroiden diesig und verschwommen wirkte. Wirbelt er so viel Staub auf?, fragte Dan sich. Nein, der seltsame Dunst ist nicht nur an der Stelle, wo Fuchs gräbt. Er ist überall. Die ganze Oberfläche des Asteroiden ist verschwommen. Was, zum Teufel, ist die Ursache dafür?