«Ich fahre hin», sagte Katherine.
Da ging sie gerade Piccadilly hinunter und begab sich zu Cook’s, um gleich Nägel mit Köpfen zu machen. Einige Minuten musste sie warten. Der Mann, mit dem sich der Angestellte gerade beschäftigte, würde auch an die Riviera reisen. Alles fährt jetzt dahin, dachte sie. Nun denn, zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie nun auch tun, was «alle» taten.
Der Mann vor ihr drehte sich plötzlich um und ging, und sie nahm seinen Platz ein. Sie trug dem Angestellten ihr Anliegen vor, aber gleichzeitig beschäftigte sich ein Teil ihrer Gedanken mit etwas anderem. Das Gesicht dieses Mannes — irgendwie kam es ihr bekannt vor. Wo hatte sie ihn nur gesehen? Plötzlich erinnerte sie sich. Es war vor ihrem Zimmer im Savoy gewesen, an diesem Morgen. Sie war mit ihm auf dem Korridor zusammengestoßen. Merkwürdiger Zufall, ihm zweimal an einem Tag zu begegnen. Sie warf einen Blick über die Schulter, mit einem Gefühl des Unbehagens, dessen Grund sie nicht kannte. Der Mann stand im Eingang und schaute zu ihr zurück. Ein kalter Schauer überlief Katherine; sie hatte eine Vorahnung von Tragödie, von drohendem Unheil.
Dann schüttelte sie mit ihrer gesunden Vernunft den Eindruck ab und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf das, was der Angestellte sagte.
Neuntes Kapitel
Derek Kettering ließ sich nur selten von Stimmungen unterkriegen. Lässige Sorglosigkeit war sein wichtigster Wesenszug und hatte ihm schon aus mancher Klemme geholfen. Auch nun, da er Mirelles Wohnung verlassen hatte, war er bald wieder gefasst. Kühle Überlegung tat Not. Die Klemme, in der er jetzt steckte, war die schlimmste, in der er sich je befunden hatte, und es waren unvorhergesehene Faktoren aufgetaucht, mit denen er im Moment noch nicht umzugehen wusste.
Tief in Gedanken schlenderte er dahin. Seine Stirn war zerfurcht, und die muntere, lässige Art, die ihm so gut anstand, war verschwunden. Mehrere Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf. Man hätte durchaus sagen können, dass Derek Kettering nicht so närrisch war, wie er wirkte. Er sah verschiedene gangbare Wege — einer davon schien ihm besonders geeignet. Wenn er davor zurückschreckte, so nur für den Moment. In einer verzweifelten Lage greift man zu verzweifelten Mitteln. Er hatte seinen Schwiegervater ganz richtig eingeschätzt. Ein Krieg zwischen Derek Kettering und Rufus Van Aldin konnte nur auf eine Weise enden. Im Geiste fluchte Derek heftig auf das Geld und die Macht des Geldes. Er ging die St. Ja-mes’s Street hinauf, überquerte Piccadilly und schlenderte weiter in Richtung Piccadilly Circus. Als er am Büro von Thomas Cook & Sons vorüberging, wurden seine Schritte langsamer. Er ging jedoch weiter, wobei er die Angelegenheit im Kopf hin und her wälzte. Schließlich nickte er kurz und machte kehrt — so jäh, dass er mit ein paar hinter ihm gehenden Passanten zusammenstieß. Diesmal ging er nicht an Cook’s vorbei, sondern hinein. Das Büro war relativ leer, und man kümmerte sich sofort um ihn.
«Ich möchte nächste Woche nach Nizza fahren. Könnten Sie mir alles zusammenstellen?»
«An welchem Tag, Sir?»
«Am Vierzehnten. Welchen Zug können Sie mir empfehlen?»
«Also, der beste Zug ist natürlich der so genannte Blaue Express. Dabei vermeidet man den lästigen Zoll in Calais.»
Derek nickte. Er wusste das alles besser als die meisten.
«Am Vierzehnten», murmelte der Angestellte, «das ist schon bald. Der Blaue Express ist fast immer ausgebucht.»
«Sehen Sie bitte nach, ob ein Schlafcoupe frei ist», sagte Derek. «Falls nicht.» Er ließ den Satz unbeendet, mit einem sonderbaren Lächeln.
Der Angestellte verschwand für einige Minuten, kam aber bald zurück. «Das geht in Ordnung, Sir, es sind noch drei Coupes frei. Ich kann Ihnen eines reservieren. Auf welchen Namen bitte?»
«Pavett», sagte Derek. Er nannte seine Adresse in der Jermyn Street.
Der Angestellte nickte, schrieb alles auf, wünschte De-rek höflich einen guten Morgen und wandte sich dem nächsten Kunden zu.
«Ich möchte nach Nizza fahren — am Vierzehnten. Gibt es da nicht einen Zug namens Blauer Express?»
Derek schaute sich jäh um.
Ein Zufall — ein seltsamer Zufall. Er erinnerte sich an seine leicht verschrobenen Worte zu Mirelle. «Porträt einer Dame mit grauen Augen. Vermutlich werde ich sie nie wieder sehen». Und jetzt hatte er sie wieder gesehen; mehr als das, sie wollte am gleichen Tag wie er an die Riviera fahren.
Einen Moment lang überlief ihn ein Schauer; in gewisser Weise war er abergläubisch. Er hatte mit einem halbherzigen Lachen gesagt, dass diese Frau ihm vielleicht Unglück bringen würde. Angenommen — angenommen, das wäre wahr? Vom Eingang schaute er zu ihr zurück, wie sie da stand und mit dem Angestellten sprach. Diesmal hatte ihm sein Gedächtnis keinen Streich gespielt. Eine Lady — eine Dame in jedem Sinn dieses Worts. Nicht sehr jung, nicht besonders hübsch. Aber sie hatte etwas — graue Augen, die vielleicht zu viel sahen. Als er hinausging, wurde ihm klar, dass er sich irgendwie vor dieser Frau fürchtete.
Er ging zurück zu seinen Räumen in der Jermyn Street und läutete seinem Diener.
«Nehmen Sie diesen Scheck, Pavett, und gehen Sie zu Cook’s, Piccadilly. Da liegen ein paar Fahrkarten auf Ihren Namen; bezahlen Sie sie und bringen Sie sie her.»
«Sehr wohl, Sir.»
Pavett verschwand.
Derek schlenderte zu einer Anrichte und nahm eine Hand voll Briefe auf. Es war eine allzu vertraute Form von Post. Rechnungen, kleine und große Rechnungen, alle dringend zu begleichen. Noch war der Ton der Mahnungen höflich. Derek wusste, wie rasch sich dieser höfliche Ton ändern würde, wenn — wenn gewisse Neuigkeiten bekannt würden.
Missmutig warf er sich in einen großen, mit Leder bezogenen Sessel. Er steckte in einer verdammten Klemme. Ja, eine verdammte Klemme! Und die Wege aus dieser Klemme waren sämtlich nicht verheißungsvoll.
Pavett erschien mit einem diskreten Hüsteln.
«Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Sir — Major Knigh-ton.»
«Knighton, wie?»
Derek setzte sich aufrecht hin, schnitt eine Grimasse, war plötzlich ganz wach. Leiser, fast als Selbstgespräch, sagte er: «Knighton — was mag da nun wieder im Busch sein?»
«Soll ich — äh — ihn hereinführen, Sir?»
Derek nickte. Als Knighton eintrat, fand er sich von einem charmanten und liebenswürdigen Hausherrn erwartet.
«Nett von Ihnen, dass Sie mich besuchen», sagte Derek.
Knighton war nervös.
Die scharfen Augen des anderen bemerkten es sofort. Der Auftrag, den der Sekretär auszuführen hatte, war ihm zweifellos unangenehm. Fast mechanisch antwortete er auf Dereks leicht dahinfließendes Geplauder. Einen Drink lehnte er ab, und sein Benehmen wurde bestenfalls noch steifer. Derek schien das endlich zu bemerken.
«Also», sagte er munter. «Was hat mein verehrter Schwiegervater mit mir vor? Sie kommen ja wohl in seinem Auftrag?»
Knighton erwiderte das Lächeln nicht.
«So ist es, ja», sagte er vorsichtig. «Ich — ich wollte, Mr Van Aldin hätte jemand anderen damit betraut.»
Mit spöttischer Betroffenheit hob Derek die Brauen.
«So schlimm ist es? Ich kann Ihnen versichern, Knighton, dass ich nicht besonders dünnhäutig bin.»
«Gut», sagte Knighton, «aber das.»
Er machte eine Pause.
Derek musterte ihn aufmerksam.
«Kommen Sie, raus damit», sagte er freundlich. «Ich kann mir vorstellen, dass die Aufträge meines lieben Schwiegervaters nicht immer angenehm sind.»