«Eh bien?»
«Das Problem war, dass sie darauf bestanden hat, Mr Van Aldin persönlich zu sprechen. Ich habe seine Mitteilung so weit abgemildert, wie ich nur konnte. In Wahrheit — um ganz offen zu sein — habe ich sie in eine andere Form gekleidet. Ich habe ihr gesagt, dass Mr Van Aldin augenblicklich zu beschäftigt sei, um sie zu empfangen, dass sie aber alles, was sie ihm mitzu teilen hat, mir anvertrauen soll. Dazu ließ sie sich jedoch nicht bewegen, und sie ist gegangen, ohne etwas zu sagen. Ich habe aber den deutlichen Eindruck, Monsieur Poirot, dass diese Frau etwas weiß.»
«Eine ernste Angelegenheit», sagte Poirot ruhig. «Wissen Sie, wo sie wohnt?»
«Ja.» Knighton nannte den Namen des Hotels.
«Gut», sagte Poirot, «wir gehen sofort hin.»
Der Sekretär sah zweifelnd drein.
«Und Mr Van Aldin?», fragte er zögernd.
«Van Aldin ist ein Dickschädel», sagte Poirot trocken. «Ich streite nicht mit Dickschädeln. Ich handle einfach. Ich sage ihr, dass Sie von Van Aldin bevollmächtigt sind, für ihn zu handeln, und Sie hüten sich bitte, mir zu widersprechen.»
Knighton blickte noch immer zweifelnd, aber Poirot nahm keine Notiz von seinem Zögern.
Im Hotel sagte man ihnen, Mademoiselle sei anwesend, und Poirot ließ seine und Knightons Karte zu ihr bringen; auf beide schrieb er mit Bleistift «Von Mr Van Al-din».
Von oben kam die Mitteilung, Mademoiselle Mirelle werde sie empfangen.
Als sie in die Räume der Tänzerin geführt worden waren, übernahm Poirot sofort das Kommando.
«Mademoiselle», murmelte er mit einer tiefen Verbeugung, «wir kommen im Auftrag von Monsieur Van Al-din.»
«Ah! Und warum kommt er nicht selbst?»
«Er ist unpässlich», log Poirot, «die typischen RivieraHalsschmerzen haben ihn erwischt, aber sowohl ich als auch Major Knighton, sein Sekretär, sind bevollmächtigt, für ihn zu handeln. Es sei denn, Mademoiselle zöge es vor, etwa vierzehn Tage zu warten.»
Wenn Poirot von etwas überzeugt war, dann davon, dass bei einem Temperament wie dem von Mirelles das bloße Wort «warten» verpönt war.
«Eh bien, ich will sprechen, Messieurs», rief sie. «Ich war geduldig. Ich habe mich zurückgehalten. Und wozu? Um beleidigt zu werden! Ja, beleidigt! Glaubt er, man könnte mit Mirelle so umspringen? Sie wegwerfen wie einen alten Handschuh? Ich sage Ihnen, noch nie ist ein Mann meiner überdrüssig geworden. Immer werde ich der Männer überdrüssig!»
Sie ging im Raum auf und ab; ihr schlanker Körper bebte vor Wut. Ein Tischchen, das ihr im Weg stand, warf sie an die Wand, wo es zerbrach.
«Das werde ich auch mit ihm machen», schrie sie, «und das!»
Sie ergriff eine mit Lilien gefüllte Glasvase und schleuderte sie in den Kamin, wo sie in hundert Stücke zerbarst.
Knighton betrachtete sie mit kühler britischer Missbilligung. Er fühlte sich peinlich berührt und unwohl. Poirot mit seinen zwinkernden Augen schien sich dagegen königlich zu amüsieren.
«Ah, das ist wunderbar!», rief er. «Man sieht — Madame hat Temperament.»
«Ich bin Künstlerin», sagte Mirelle, «jede Künstlerin hat Temperament. Ich habe Derek gesagt, er soll sich in Acht nehmen, aber er wollte nicht hören.» Sie drehte sich plötzlich schnell zu Poirot um. «Es stimmt, nicht wahr, dass er diese englische Miss heiraten will?»
Poirot hustete.
«On m’a dit», murmelte er, «dass er sie leidenschaftlich verehrt.»
Mirelle ging auf sie los.
«Er hat seine Frau umgebracht», kreischte sie. «So — da haben Sie es! Er hat mir vorher gesagt, dass er es tun will! Er war in einer impasse — zutl und hat den einfachsten Ausweg genommen.»
«Sie sagen, Monsieur Kettering hat seine Frau ermordet.»
«Ja, ja, ja. Habe ich es denn nicht deutlich genug gesagt?»
«Die Polizei», murmelte Poirot, «wird Beweise für diese — eh — Behauptung brauchen.»
«Ich sage Ihnen, ich habe ihn in dieser Nacht im Zug aus dem Abteil seiner Frau kommen sehen.»
«Wann?», fragte Poirot scharf.
«Unmittelbar bevor der Zug Lyon erreicht hat.»
«Werden Sie das beschwören, Mademoiselle?»
Nun sprach ein anderer Poirot, scharf und entschieden.
«Ja.»
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Mirelle rang nach Atem, und ihre Augen — halb herausfordernd, halb ängstlich — gingen von einem Gesicht zum anderen.
«Das ist eine ernste Sache, Mademoiselle», sagte der Detektiv. «Wissen Sie, wie ernst?»
«Natürlich.»
«Gut», sagte Poirot. «Dann werden Sie verstehen, Mademoiselle, dass wir keine Zeit verlieren dürfen. Am besten begleiten Sie uns sofort zum Büro des Untersuchungsrichters.»
Mirelle stutzte. Sie zögerte, aber wie Poirot vorausgesehen hatte, gab es für sie jetzt kein Schlupfloch mehr.
«Also gut», murmelte sie, «ich hole einen Mantel.»
Als sie allein waren, wechselten Poirot und Knighton einen Blick.
«Man muss handeln, solange — wie sagen Sie? — das Eisen heiß ist», murmelte Poirot. «Sie ist von Stimmungen abhängig; vielleicht bereut sie in einer Stunde alles und würde ihre Anschuldigungen gern zurücknehmen. Das müssen wir um jeden Preis verhindern.»
Mirelle kam zurück, in ein sandfarbenes Samtcape gehüllt, das mit Leopardenfell besetzt war. Sie sah selbst einer Leopardin nicht unähnlich, dunkel und gefährlich. Noch immer blitzten ihre Augen vor Wut und Entschlossenheit.
Sie fanden Monsieur Caux und den Untersuchungsrichter zusammen vor. Nach einigen einleitenden Worten von Poirot wurde Mademoiselle Mirelle höflich aufgefordert, ihre Geschichte zu erzählen. Sie tat dies fast mit den gleichen Worten wie vor Knighton und Poirot, aber in weit nüchternerer Art.
«Das ist eine außerordentliche Geschichte, Mademoiselle», sagte Carrege langsam. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, schob den Kneifer zurecht und musterte die Tänzerin scharf und forschend.
«Sie wollen uns also klarmachen, dass Monsieur Kettering tatsächlich vorher Ihnen gegenüber mit dem Verbrechen geprahlt hat?»
«Ja, ja. Sie sei zu gesund, hat er gesagt. Wenn sie sterben soll, muss es ein Unfall sein — und den würde er arrangieren.»
«Sind Sie sich bewusst, Mademoiselle», sagte Carrege streng, «dass Sie sich damit gewissermaßen der Beihilfe zum Mord bezichtigen?»
«Ich? Aber nicht die Spur, Monsieur. Ich habe seine Worte doch keinen Augenblick ernst genommen. Ah nein, wirklich nicht! Ich kenne die Männer, Monsieur; die sagen schließlich so manches. Es würde sehr seltsam in der Welt zugehen, wenn man alles, was sie sagen, au pied de la lettre nehmen wollte.»
Der Untersuchungsrichter hob die Brauen.
«Wir haben also davon auszugehen, dass Ihnen Monsieur Ketterings Drohungen nur als leeres Gerede erschienen? Darf ich fragen, Mademoiselle, was Sie dazu gebracht hat, Ihre Verpflichtungen in London einfach im Stich zu lassen und an die Riviera zu reisen?»
Mirelle schaute ihn aus schmelzenden schwarzen Augen an.
«Ich wollte bei dem Mann sein, den ich liebte», sagte sie schlicht. «Ist das so unnatürlich?»
Poirot schob behutsam eine Frage ein.
«Sie haben Monsieur Kettering also auf seinen Wunsch nach Nizza begleitet?»
Mirelle schien die Beantwortung dieser Frage ein wenig schwierig zu finden. Sie zögerte merklich, bevor sie sprach. Als sie es tat, geschah es mit hochmütiger Gleichgültigkeit.
«In solchen Dingen tue ich das, was mir passt, Monsieur», sagte sie.
Keinem der drei Männer entging, dass diese Antwort eigentlich keine war. Sie sagten nichts dazu.
«Wann sind Sie zu der Überzeugung gelangt, dass Monsieur Kettering seine Gattin ermordet hat?»