Die Hausglocke läutete, und Hippolyte, feierlich und würdevoll, öffnete die Tür.
«Monsieur le Comte ist leider nicht anwesend.»
Der kleine Mann mit dem großen Schnurrbart lächelte freundlich.
«Das weiß ich», erwiderte er. «Sie sind Hippolyte Flavel-le, nicht wahr?»
«Ja, Monsieur, so heiße ich.»
«Und Sie haben eine Frau, Marie Flavelle?»
«Ja, Monsieur, aber.»
«Ich will Sie beide sprechen», sagte der Fremde und ging flink an Hippolyte vorbei in die Diele.
«Ihre Frau ist zweifellos in der Küche», sagte er.
Ehe Hippolyte sich von seiner Verblüffung erholen konnte, hatte der andere die richtige Tür am Ende der Diele geöffnet und ging durch den Korridor in die Küche, wo Marie ihn mit offenem Mund anstarrte.
«Voilä», sagte der Fremde; er ließ sich auf einen hölzernen Lehnstuhl sinken. «Ich bin Hercule Poirot.»
«Ja, Monsieur?»
«Mein Name sagt Ihnen nichts?» «Ich habe ihn nie gehört», sagte Hippolyte.
«Gestatten Sie mir die Bemerkung, dass das eine Lücke in Ihrer Bildung ist. Es ist der Name eines der Größten der Welt.»
Er seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust.
Hippolyte und Marie starrten ihn unbehaglich an. Sie wussten nicht, was sie von diesem unerwarteten und ungemein seltsamen Besucher halten sollten.
«Monsieur wünschen.», murmelte Hippolyte mechanisch.
«Ich wünsche zu wissen, warum Sie die Polizei angelogen haben.»
«Monsieur!», rief Hippolyte, «ich — die Polizei angelogen? Ganz ausgeschlossen, niemals!»
Poirot schüttelte den Kopf.
«Sie irren sich», sagte er, «Sie haben es sogar mehrmals getan. Mal sehen.» Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und konsultierte es. «Ah, ja; mindestens bei sieben Gelegenheiten. Ich will sie Ihnen nennen.»
Mit sanfter Stimme ging er daran, die sieben Punkte zu verlesen.
Hippolyte stand mit offenem Mund da.
«Ich bin aber nicht gekommen, um über diese kleinen vergangenen Verfehlungen zu sprechen», fuhr Poirot fort, «nur sollten Sie sich nicht für allzu gescheit halten, mon ami. Ich komme jetzt zu der besonderen Lüge, mit der ich mich befasse — Ihrer Aussage, dass der Comte de la Roche diese Villa am Morgen des vierzehnten Februar betreten hat.»
«Aber das war doch keine Lüge, Monsieur, das war die Wahrheit. Monsieur le Comte ist am Dienstag, dem Vierzehnten, morgens hier angekommen. Stimmt das etwa nicht, Marie?»
Marie stimmte eifrig zu.
«Ah, ja, das stimmt. Ich erinnere mich sehr gut.»
«Ach», sagte Poirot, «und was haben Sie dem gnädigen Herrn an dem Tag zu essen serviert?»
«Ich.» Marie brach ab und versuchte, sich zu sammeln.
«Seltsam», sagte Poirot, «wie man sich an einige Dinge erinnert — und andere vergisst.»
Er beugte sich vor und hieb die Faust auf den Tisch, seine Augen sprühten vor Zorn.
«Ja, ja, es ist so, wie ich sage. Sie erzählen Lügen, und Sie meinen, keiner weiß Bescheid. Aber es gibt zwei Leute, die Bescheid wissen. Ja — zwei Leute. Der eine ist le bon Dieu.»
Er erhob eine Hand zum Himmel, dann setzte er sich wieder zurecht, schloss die Lider und murmelte behaglich:
«Und der andere ist Hercule Poirot.»
«Ich versichere Ihnen, Monsieur, Sie müssen sich irren. Monsieur le Comte hat Paris am Montagabend verlassen.»
«Stimmt», sagte Poirot, «mit dem Rapide. Wo er die Fahrt unterbrochen hat, weiß ich nicht. Vielleicht wissen Sie es. Was ich aber weiß, ist, dass er am Mittwoch früh hier angekommen ist und nicht am Dienstag.»
«Monsieur irrt sich», sagte Marie unerschütterlich.
Poirot stand auf.
«Dann muss ich der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen», murmelte er. «Schade!»
«Was meinen Sie damit, Monsieur?», fragte Marie ein klein wenig beunruhigt.
«Sie werden verhaftet werden, und zwar wegen Beihilfe zum Mord an Madame Kettering, der englischen Dame, die umgebracht wurde.»
«Mord!»
Das Gesicht des Mannes war kreideweiß geworden und seine Knie zitterten. Marie ließ den Teigroller fallen und begann zu weinen.
«Aber das ist unmöglich — unmöglich! Ich hatte geglaubt.»
«Da Sie bei Ihrer Darstellung bleiben, ist jedes weitere Wort überflüssig. Ihr seid beide große Narren.»
Poirot hatte sich bereits zum Gehen gewandt, als eine aufgeregte Stimme ihn zurückrief.
«Monsieur, Monsieur, bitte einen Augenblick. Ich — ich hatte keine Ahnung, dass es um so etwas geht. Ich — ich dachte, es handelt sich um eine Dame. Wegen Damen haben wir schon öfter kleine Unannehmlichkeiten mit der Polizei gehabt. Aber Mord — das ist etwas ganz anderes.»
«Meine Geduld ist zu Ende», rief Poirot. Er drehte sich zu ihnen um und fuchtelte zornig mit der Faust vor Hip-polytes Gesicht herum. «Soll ich den ganzen Tag hier stehen und mich mit zwei Idioten zanken? Ich will die Wahrheit wissen. Wenn Sie sie mir nicht sagen wollen, dann ist das Ihr Vergnügen. Zum letzten Maclass="underline" Wann ist Monsieur le Comte in der Villa Marina angekommen — Dienstagmorgen oder Mittwocbmorgen?»
«Mittwoch», ächzte der Mann, und hinter ihm nickte Marie.
Poirot betrachtete sie eine Minute lang stumm, dann nickte auch er.
«Ihr seid klug, meine Kinder», sagte er ruhig. «Um ein Haar wärt ihr in eine böse Situation geraten.»
Vergnügt vor sich hin lächelnd verließ er die Villa.
«Einmal richtig geraten», murmelte er. «Soll ich es noch einmal versuchen?»
Es war sechs Uhr, als die Karte von Monsieur Hercule Poirots Mirelle hinaufgebracht wurde. Sie starrte sie ein paar Momente an und nickte dann. Als Poirot eintrat, ging die Tänzerin nervös im Zimmer auf und ab. Sie stürzte sich wütend auf ihn.
«Was wollen Sie von mir?», schrie sie ihn an. «Worum geht es jetzt? Haben Sie mich noch nicht genug gequält, Sie alle? Sind Sie nicht alle schuld daran, dass ich meinen armen Derek verraten habe? Was wollen Sie noch?»
«Eine einzige kleine Frage, Mademoiselle. Nachdem der Zug Lyon verlassen hatte und Sie das Abteil von Madame Kettering betreten haben.»
«Was soll das?»
Poirot blickte sie mit mildem Vorwurf an und begann aufs Neue.
«Als Sie Madame Ketterings Abteil betreten hatten.»
«Das habe ich nie getan.»
«Und sie dort liegen sahen.»
«Ich habe das Abteil nicht betreten, das sage ich Ihnen doch.»
«Ab, sacre!»
Er schrie sie so wütend an, dass sie sich vor ihm duckte.
«Mich wollen Sie anlügen? Ich sage Ihnen, was geschehen ist, so genau, als ob ich dabei gewesen wäre. Sie sind in das Abteil gegangen und haben sie tot vorgefunden. Ich sage Ihnen, ich weiß es. Mich anzulügen ist gefährlich. Seien Sie vorsichtig, Mademoiselle Mirelle.»
Unter seinem Blick zuckten ihre Augen und senkten sich.
«Ich — ich habe doch nicht.», begann sie unsicher und brach ab.
«Ich frage mich nur eines», sagte Poirot, «nämlich, ob Sie das, was Sie suchten, gefunden haben, Mademoiselle, oder ob.»
«Ob was?»
«Oder ob Ihnen jemand zuvorgekommen war.»
«Ich antworte auf keine Frage mehr», kreischte die Tänzerin. Sie riss sich von Poirot los, der ihr die Hand auf den Arm gelegt hatte, und warf sich zu Boden, wo sie kreischte und schluchzte. Eine erschreckte Zofe kam herbeigelaufen.
Hercule Poirot zuckte mit den Schultern, hob die Brauen und verließ ruhig das Zimmer.
Aber er schien zufrieden zu sein.
Dreißigstes Kapitel
Katherine blickte durch Miss Viners Schlafzimmerfenster ins Freie. Es regnete, nicht stark, aber mit ruhiger, gleichmäßiger Beharrlichkeit. Vor dem Fenster erstreckte sich ein schmaler Vorgarten mit einem Weg hinab zum Tor und zu beiden Seiten säuberliche Blumenbeete, in denen später Rosen und Nelken und blaue Hyazinthen blühen würden.