Miss Viner lag auf einem großen viktorianischen Bett. Sie hatte ein Tablett mit den Überbleibseln des Frühstücks beiseite geschoben, öffnete eben ihre Post und gab beißende Kommentare dazu ab.
Katherine hielt einen geöffneten Brief in der Hand und las ihn zum zweiten Mal. Er kam aus dem Ritz in Paris und lautete folgendermaßen:
Cbere Mademoiselle Katherine
Ich hoffe, dass Sie gesund sind und der englische Winter Sie nicht allzu sehr deprimiert. Ich setze meine Nachforschungen mit äußerster Sorgfalt fort. Glauben Sie ja nicht, dass ich hier Ferien mache. Bald werde ich nach England kommen und hoffe auf das Vergnügen, Sie wieder zu sehen. Ich werde Sie doch sehen, oder? Bei meiner Ankunft in London werde ich Ihnen schreiben. Sie haben doch nicht vergessen, dass wir in dieser Affäre Kollegen sind? Aber ich glaube, das wissen Sie sehr wohl. Seien Sie, Mademoiselle, meiner Hochachtung und Ergebenheit versichert.
Hercule Poirot
Katherine schnitt eine kleine Grimasse. Es war, als ob etwas an diesem Brief ihr Rätsel aufgebe und sie beunruhige.
«Ausgerechnet ein Picknick für Chorknaben», brum-melte Miss Viner. «Tommy Saunders und Albert Dykes sollten aber nicht mitkommen, und ich unterstütze das Ganze erst, wenn sie nicht dabei sind. Was die beiden Jungs sonntags in der Kirche machen, weiß ich nicht. Tommy hat <O Herr, erlöse uns geschwind> gesungen und dann den Mund nicht mehr aufgemacht, und wenn Albert Dykes nicht die ganze Zeit Pfefferminzbonbons gelutscht hat, dann ist meine Nase nicht mehr das, was sie immer war und immer noch ist.»
«Ich weiß, sie sind schrecklich», stimmte Katherine zu.
Sie öffnete einen zweiten Brief, und eine plötzliche Röte stieg in ihre Wangen. Miss Viners Stimme im Zimmer schien in weite Fernen zu rücken.
Als sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst wurde, gelangte Miss Viner eben ans triumphale Ende einer langen Rede.
«Und ich sage zu ihr: <Überhaupt nicht. Zufällig ist Miss Grey Lady Tamplins Kusine.> Na, was halten Sie davon?»
«Haben Sie meine Schlachten für mich ausgetragen? Das war sehr nett von Ihnen.»
«Sie können es so nehmen, wenn Sie wollen. Für mich hat ein Titel keinen besonderen Wert. Pfarrersfrau oder nicht, diese Frau ist eine Katze. Anzudeuten, Sie hätten sich Ihren Weg in die Gesellschaft erkauft!»
«Vielleicht hatte sie gar nicht so Unrecht.»
«Sehen Sie sich doch an», fuhr Miss Viner fort. «Sind Sie etwa als hochnäsige feine Dame zurückgekommen, was ja durchaus denkbar gewesen wäre? Nein, da sitzen Sie, so vernünftig wie eh und je, in guten dicken Wollstrümpfen und Ihren vernünftigen Schuhen. Erst gestern habe ich mich mit Ellen darüber unterhalten. <Ellen>, habe ich gesagt, <schauen Sie sich Miss Grey an. Sie war ganz dicke mit einigen von den Größten im Land, und läuft sie vielleicht so herum wie Sie, mit dem Rock knapp überm Knie und Seidenstrümpfen, die Laufmaschen kriegen, wenn man zu scharf hinsieht, und den albernsten Schuhen, die ich je gesehen habe?>»
Katherine lächelte ein wenig vor sich hin. Es hatte sich offenbar gelohnt, Miss Viners Vorurteilen entgegenzukommen. Mit wachsendem Schwung fuhr die alte Dame fort.
«Es war mir eine große Erleichterung, dass Sie so ohne Flausen zurückgekommen sind. Erst neulich habe ich meine Zeitungsausschnitte gesucht. Ich habe nämlich einige Artikel über Lady Tamplin und ihr Lazarett und alles mögliche andere. Ich konnte sie aber nicht finden. Sie sollten einmal danach suchen, meine Liebe. Ihre Augen sind besser als meine. Die sind alle in einer Schachtel in einer der Schubladen des Schreibtischs.»
Katherine warf einen Blick auf den Brief in ihrer Hand und wollte eigentlich etwas sagen, verkniff es sich jedoch, ging zum Schreibtisch hinüber, fand die Schachtel mit Zeitungsausschnitten und begann sie durchzusehen. Seit ihrer Rückkehr nach St. Mary Mead hatte sie Miss Viner ins Herz geschlossen und bewunderte die stoische Haltung und den Mumm der alten Dame. Sie hatte das Gefühl, nicht viel für ihre alte Freundin tun zu können, aber aus Erfahrung wusste sie, wie viel diese scheinbaren Nebensächlichkeiten alten Menschen bedeuteten.
«Hier habe ich einen», sagte sie.
«<Viscountess Tamplin, die ihre Villa in Nizza in ein Lazarett für Offiziere umgewandelt bat, ist das Opfer eines sensationellen Raubes geworden. Ihre gesamten Juwelen wurden gestohlen, darunter auch die berühmten Smaragde, ein Erbstück des Hauses Tamplin.>»
«Wahrscheinlich Glas», sagte Miss Viner, «wie das meiste, was die Damen der Gesellschaft an Schmuck haben.»
«Hier ist wieder etwas», sagte Katherine. «Ein Bild von ihr. <Eine entzückende Studie: Viscountess Tamplin mit ihrem Töchterchen Lenox>.»
«Lassen Sie mal sehen», sagte Miss Viner. «Viel ist vom Gesicht des Kindes nicht zu sehen, oder? Ist wahrscheinlich auch besser so. Die Welt wimmelt von Gegensätzen, und schöne Mütter haben grässliche Kinder. Ich nehme an, der Fotograf hat gesehen, dass der Anblick des Hinterkopfs das Beste ist, was er für das Kind tun kann.»
Katherine lachte.
«Eine der elegantesten Gastgeberinnen der diesjährigen RivieraSaison ist Viscountess Tamplin, die eine Villa in Cap Martin besitzt. Ihre Kusine, Miss Grey, die kürzlich auf sehr romantische Weise ein riesiges Vermögen geerbt bat, ist bei ihr zu Gast>.»
«Das ist der, den ich gesucht habe», sagte Miss Viner. «Wahrscheinlich war in einer von den Zeitungen ein Bild von Ihnen, das ich verpasst habe; Sie wissen schon — Mrs Soundso oder Irgendwas Jones-Williams bei diesem oder jenem Geschieße, meistens mit Flinte unter dem Arm und einem Fuß in der Luft. Für einige von denen muss es schlimm sein, hinterher festzustellen, wie sie aussehen.»
Katherine antwortete nicht. Mit einem Finger glättete sie den Zeitungsausschnitt, und auf ihrem Gesicht lag ein verwirrter, besorgter Ausdruck. Dann zog sie den zweiten Brief aus seinem Umschlag und las ihn abermals. Sie wandte sich an ihre Freundin.
«Miss Viner? Hören Sie bitte — ein Bekannter von mir, den ich an der Riviera kennen gelernt habe, möchte mich gern hier besuchen.»
«Ein Mann?», fragte Miss Viner.
«Ja.»
«Wer ist es?»
«Der Sekretär von Mr Van Aldin, dem amerikanischen Millionär.»
«Wie heißt er?»
«Major Knighton.»
«Hm. Sekretär eines Millionärs. Und will herkommen. Also, Katherine, ich will Ihnen mal sagen, was gut für Sie ist. Sie sind ein nettes Mädchen und vernünftig, und Ihr Kopf sitzt richtig herum zwischen den Schultern, aber einmal im Leben macht jede Frau sich zum Narren. Zehn zu eins, dass der Mann da hinter Ihrem Geld her ist.»
Mit einer Geste unterband sie Katherines Antwort. «Auf so etwas habe ich gewartet. Was ist der Sekretär eines Millionärs? In neun von zehn Fällen ein junger Mann, der sich gern ein leichtes Leben macht. Ein junger Mann mit guten Manieren und Hang zum Luxus und nichts im Kopf und kein Unternehmungsgeist, und wenn es etwas gibt, was eine noch schlappere Angelegenheit ist als Sekretär bei einem Millionär zu sein, dann ist es das: Eine reiche Frau wegen ihres Geldes heiraten. Ich will nicht sagen, dass Sie keinem Mann gefallen können. Aber Sie sind nicht jung, und Sie haben zwar eine feine Haut, aber eine Schönheit sind Sie nicht, und was ich sagen will, ist: machen Sie sich nicht zum Narren. Aber wenn Sie darauf bestehen, dann sorgen Sie dafür, dass Ihr Geld ganz sicher bei Ihnen bleibt. So, ich bin fertig. Was haben Sie dazu zu sagen?»
«Nichts», sagte Katherine, «aber hätten Sie etwas dagegen, wenn er mich besuchen käme?»