Kaum hatte er den Beutel abgesetzt, als sich das Wesen regte.
Schnell wich er einige Sprünge beiseite und verhielt sich regungslos.
Ein bohrender Schmerz im Kopf ließ Ia-du-lin aufstöhnen.
Mühsam öffnete er seine Augen. Über ihm wölbte sich ein klarer, blauer Morgenhimmel. Ihn fröstelte. Woher kamen die Schmerzen am Kopf?
Und plötzlich erinnerte sich Ia-du-lin an das vom Himmel herabsinkende, brüllende und feuerspeiende Ungeheuer, an die Staubschwaden, an I-na-nua. Er sprang auf und taumelte auf die Göttin zu.
Weißstrahlende Reinheit war das erste, was Ia-du-lin empfand. So schlank und makellos konnte nur I-na-nua sein!
Plötzlich öffnete die ruhende Göttin ihr Auge. Der Tamkare warf sich in den Staub. Klopfenden Herzens sah er, wie sich die Göttin aufrichtete. Ihr überschlanker Körper reckte sich hoch empor. Beängstigend wurde ihm bewußt, daß sie so gar nicht den Menschen und auch nicht den Statuen in den Tempeln ähnelte. Ihr Kopf war schmal und spitz, und um ihren Hals unterhalb des Auges wand sich ein glitzerndes, breites Band. Ia-du-lin senkte den Kopf und betete.
Als er wieder aufblickte, lag I-na-nua ruhend am Boden, das Auge geschlossen. Ia-du-lin wagte sich weiter voran. Sein Kopf begann stärker zu schmerzen. Feurige Ringe tanzten vor seinen Augen. Plötzlich legte sich ein schwarzer Schleier vor seinen Blick. Die Welt um ihn herum versank.
Doch schon fühlte er, wie ihm wunderbar leicht zumute wurde. Er spürte keine Schmerzen mehr. Wie nach tiefem Schlaf schwebte er zur Oberfläche des Traummeeres empor.
Nur Durst quälte ihn. Ia-du-lin tastete nach seinem Wasserbeutel aus Ziegenfeil und begann zu trinken. Da fiel sein Blick auf die ruhende Göttin. Er erschrak, denn sie war sehr nahe. Wie war er hierher in den Schatten des großen Steines gekommen? Was war das für ein merkwürdiger gelber Mantel, der ihn einhüllte?
Da gewahrte er eine Gestalt. Sie stand regungslos. Ia-du-lins Herz begann heftig zu klopfen. Furcht stieg in ihm auf und schnürte ihm den Hals zu. Der Beutel entfiel seiner Hand.
Leise glucksend floß das Wasser aus. Dumpf ahnte er, daß diese Gestalt und nicht das weiße Ding eine Gottheit war.
Fremdartig mutete ihn diese hohe, wuchtige Figur an. Sie war in ein weites, faltenloses, steifes Gewand von violetter Farbe gehüllt, das bis zum Boden herunterreichte und auch den Kopf verhüllte. Sein Mantel war unten ringsherum von einem breiten Saum eingefaßt. Von der wie kopflos wirkenden Gestalt lief von oben bis unten ein handbreiter Streifen herab, deutlich an seinem Grätenmuster zu erkennen.
Langsam entfernte sich die Gestalt. Sie schien zu schweben.
Aus dem Mantel ragte ein langer Zipfel hoch über den Körper hinaus und schwang leicht hin und her.
Die Angst Ia-du-lins vor der fremden Gottheit wuchs.
Plötzlich sprang er auf und rannte davon. Als er einmal in vollem Lauf zurückblickte, sah er, wie der Fremde abermals zum Felsblock glitt. Ia-du-lin blieb stehen. Er beobachtete, wie die Gestalt sich bückte, seinen ausgelaufenen Ziegenschlauch aufnahm und etwas Wasser aus einem merkwürdigen kugelrunden Krug hineinschüttete.
Da streckte der Esel seinen Kopf hinter dem Felsblock hervor. Schnaubend ging das Tier auf den Gott zu und stieß mit dem Maul nach dem Ziegenschlauch. Der Esel schien keine Angst vor der unbekannten Erscheinung zu haben. Der Gott hob den Ziegenschlauch auf den Felsblock, so daß der Esel nicht heranreichen konnte, und breitete das gelbe Tuch darüber. Dann ging er zu seinem weißen Haus zurück, umschritt es, schabte daran und beklopfte es von allen Seiten.
Ia-du-lin faßte wieder Mut. Wenn der Esel keine Angst hatte, warum sollte er sich dann fürchten? Beherzt ging er zum Felsblock zurück. Neugierig befühlte er das gelbe Tuch. Es war so dünn wie der Flügel der Biene, leicht wie eine Vogelfeder, weich wie die frischgewaschene Wolle eines jungen Schafes und glatt wie das Wasser, wenn der Wind ruhte. Seine Farbe glich der des Sandes. Der feine Faden des Gewebes war kaum zu erkennen.
Was mochte der Gott in den Ziegenschlauch gefüllt haben?
Ia-du-lin ließ den Umhang zu Boden gleiten und öffnete den Beutel. Ein starker, angenehmer Duft schlug ihm entgegen. Er schüttete sich etwas auf die flache, zur Schale gekrümmte Hand. Eine gelbliche, durchsichtige Flüssigkeit netzte die Haut. Vorsichtig kostete Ia-du-lin. Sie schmeckte süß und würzig, so, als sei der Duft vieler, vieler Kräuter und Blumen in diesem Getränk vereint. Er setzte den Beutel an die Lippen und trank.
Sofort fühlte er sich erfrischt. Auch der Hunger, der in ihm nagte, schwand.
„Ner“, sagte da plötzlich eine hohe, singende Stimme langsam. Ia-du-lin sah auf. Der fremde Gott war herangekommen. Einige Schritte entfernt verhielt er. „Ner“, sagte er noch einmal.
„Ner“, sagte auch Ia-du-lin wie unter einem Zwang. Sollte der Gott seine Schmerzen gestillt, den Verband angelegt, ihn in den Schatten des Felsblockes gebracht und ihn behütet haben, bis er aus seiner Ohnmacht erwachte? Doch tat so etwas ein Gott? Wer war jene Gestalt? War der Fremde dort vielleicht I- na-nuas Sohn oder ein anderer Bewohner des Himmels? Ia-du- lin fühlte auf einmal grenzenloses Vertrauen zu dieser Erscheinung.
Erwartungsvoll, wenn auch mit klopfendem Herzen schritt Ia- du-lin auf den Sohn der I-na-nua zu. Er hielt ihm seinen geöffneten Ziegenschlauch hin. Und der Fremde aus den Wolken füllte ihm den Wasserbeutel mit Ner bis oben an.
Sorgfältig band Ia-du-lin zu.
Da gewahrte er erschrocken, daß der Esel den gelben Umhang, das Himmelstuch, im Maul hielt, seine Vorderhufe daraufstemmte und daran zerrte. Der Stoff mußte gleich zerreißen. Ia-du-lin stürzte hinzu und riß das Tuch an sich. Es hatte erstaunlicherweise den Zähnen und den Hufen des Esels standgehalten.
Hinter ihm erklangen helle, glückhafte und melodische Laute. I-na-nuas Sohn lachte. Verwundert lauschte Ia-du-lin. Gar zu gern hätte er jetzt das Gesicht der fremden Erscheinung gesehen. Die glatte, faltenlose Umhüllung jedoch verbarg Gestalt und Antlitz.
Sil war froh und glücklich. Das aufrecht gehende Wesen, das sein Wort Ner nachgesprochen hatte, schien Vertrauen zu ihm gefaßt zu haben. Zu gern hätte er jetzt Gohati, Tivia und den anderen von seiner Begegnung mit diesem Lebewesen berichtet. Jedoch wie sollte er Verbindung zur „Kua“ bekommen, hatte doch die Untersuchung des Weißen Pfeils ergeben, daß die Antennendorne beim Sturz in die Atmosphäre abgeschmolzen waren.
Da erinnerte sich Sil der beiden Meßsonden, die er abwerfen sollte. Eilig glitt er zur Rakete, holte sie aus der Kabine und stellte sie im Freien auf. Sie sollten dem Raumschiff mit ihren Signalen anzeigen, wo er sich befand. Die Sonden sahen wie kleine, graue Pyramiden aus. Ihre Spitze endete in einer kurzen Antenne. Mit Meßfühlern und durch kleine Öffnungen an den Seiten wurden die Umwelteinflüsse wie Temperatur, Sonneneinstrahlung, Feuchtigkeitsgehalt und anderes registriert und bis zum Abrufsignal der „Kua“ gespeichert.
Das längliche, aufrechte Lebewesen war näher zur Rakete gekommen und betrachtete neugierig die Meßsonden. Es trug den strahlendämpfenden Umhang zusammengelegt in der Hand. Sil nahm das Tuch langsam, entfaltete es und hängte es ihm um. Das Wesen ließ es geschehen.
Eine rasche Prüfung hatte ergeben, daß die Sende- und Empfangsanlagen des Weißen Pfeils unversehrt waren. Um Verbindung mit dem Raumschiff zu bekommen, spannte Sil neben der Rakete eine provisorische Antenne aus. Dann schaltete er das Funkgerät ein. Der Weiße Pfeil begann, sein Rufzeichen über die Behelfsantennen in den Äther auszustrahlen. In spätestens zwei Stunden müßte eine Funkverbindung zustande gekommen sein.
Sil entschloß sich, das Geschöpf in die Kabine zu holen. Er wollte die Zeit, die er wartend am Empfänger verbrachte, nutzen, um Sprachaufzeichnungen von dem Planetenbewohner zu machen und sie später zu enträtseln. Sil deutete mit einer Körperbewegung zur Rakete hinüber, berührte das Wesen vorsichtig und schob es mit sanftem Druck vor sich her.