Aus dem dunklen Ufergesträuch rief jemand leise: „Wieviel Pfeile stecken in deinem Köcher?“
„Sieben Stück, und nur einer, der zu Nan-nar hinauffliegt“, antwortete Ia-du-lin vereinbarungsgemäß.
Blätter raschelten, und ein Zweig knackte. Oben an der Uferböschung erschien, gegen den Nachthimmel gut sichtbar, eine dunkle Gestalt, die ihm winkte. Ia-du-lin arbeitete sich den Abhang hinauf. Der unbekannte Eingeweihte ergriff seine Hand und zog ihn zu sich heran. Ia-du-lin erkannte einen der Priester, die dem Mondgott Nan-nar in seinem Tempel in E- rech dienten. Wortlos wies der Priester in Richtung der Stadt.
Dort stand groß die Scheibe des Mondes über dem Horizont.
Unwillkürlich schirmte Ia-du-lin die Augen gegen den rötlichen Schein ab. Da erkannte er in der Ferne eine Kette heller Lichtpünktchen.
„Fackelträger?“ fragte Ia-du-lin.
„Nein, Lagerfeuer“, flüsterte der Nan-nar-Priester.
„Was ist geschehen?“ Ia-du-lin ahnte Schlimmes.
„E-rech ist belagert“, sagte der Priester. „Der Gal-Uku-Patesi aus Ur ist mit seinem Heer vor den Toren unserer Stadt erschienen. Er hat En-mer-kar aufgefordert, das oberste Kriegsrecht im Zweistromland an Ur abzutreten.“
Der Nan-nar-Priester hatte schon mehrere Tage und Nächte hier am Ufer des Pu-rat-tu versteckt gewartet, um den Tamkare des Herrschers zu warnen.
„Sprich weiter“, verlangte Ia-du-lin.
„En-mer-kar hat die Ältesten befragt. Sie rieten ihm, der Stadt den Frieden zu erhalten und das oberste Kriegsrecht dem Gal- Uku-Patesi zu überlassen“, berichtete der Priester. „En-mer-kar war nicht mit diesem Rat zufrieden. Er befragte auch seine Berater und den Nubanda, seinen höchsten Beamten. Diese sagten, man müsse die Würde E-rechs verteidigen. Ebendas wollte auch En-mer-kar. Er lehnte die Förderung Urs ab. Da schloß der Gal-Uku-Patesi den Ring der Belagerung um E- rech.“
„Wie kommen wir nun in die Stadt?“ flüsterte Ia-du-lin.
Der Nan-nar-Priester gab ihm zu verstehen, daß er nur den Auftrag habe, ihn zu warnen. Er selbst wolle warten, bis die Belagerer abgezogen seien.
Ia-du-lin überlegte, wie er die Postenkette um die Stadt durchbrechen könnte. Es gab für ihn gar keinen Zweifel, daß er dies wagen mußte. Sollte sein Plan, mit Hilfe Sils die Stellung eines Tamkare-Patesi, Hohenpriesters oder gar eines Herrschers zu erlangen, Wirklichkeit werden, dann mußte er in die Stadt gelangen, weniger, um En-mer-kar das Ergebnis seiner Mission mitzuteilen, als vielmehr, die augenblickliche Lage zu prüfen und eine Möglichkeit zu suchen, die Belagerung zu beenden und den Gal-Uku zu besiegen. Nur ein starkes, erfolgreiches E-rech würde erste Stadt im Zweistromland bleiben und würde den erträumten Stellungen jenen Glanz verleihen, der sie über alle gleichartigen der anderen Städte des Landes erhob. Es galt, geschickt zu Werke zu gehen. Weder die Priester noch die Beamten und erst recht nicht En-mer-kar oder gar der Himmelssohn Sil durften merken, welche Absichten er hatte. Jetzt jedenfalls mußte er zunächst erst einmal unbemerkt in die Stadt gelangen und den Gal-Uku vertreiben. Am einfachsten war es, schon jetzt die Hilfe Sils in Anspruch zu nehmen.
Ia-du-lin hatte lange zur fernen Lichterkette der Wachfeuer hinübergestarrt. Jetzt wandte er sich um und stieg die Uferböschung zu seinem Boot hinab. In der Mitte des Kahnes lag der spitze Stein. Ia-du-lin warf ihm den gelben Umhang über. Dann ging er zum Priester zurück.
Der Mond war inzwischen höher gestiegen und leuchtete heller.
Am Ufer wartete der Priester geduldig und sah derweil hinaus auf das silbern schimmernde Land im Mondlicht. Wehmütig dachte er daran, daß in solchen Nächten die Priester des Mondgottes Nan-nar und auch des Tempels der Nin-Gal, der Mondgöttin, nicht schlafen gingen. Sie durchzogen die Tempelhöfe und umkreisten die Statuen. Opfertiere wurden geschlachtet, und aus dem lautlosen Tempelreigen wurde nach und nach der große Gesang an Nan-nar und Nin-Gal.
Die Feuer in der Ferne um die Stadt brannten noch, sie wirkten jetzt aber blaß und unscheinbar im Licht des Mondes, bemerkte Ia-du-lin, als er vom Boot zurückkehrte. Er stellte sich breit und unbekümmert auf die Wiese am Ufer. Die Mahnung des Priesters, sich in die Schatten des Gesträuchs zurückzuziehen, um nicht umherstreifenden Patrouillen aufzufallen, ließ er unbeachtet. Ia-du-lin fühlte sich sicher. Der Himmelssohn würde bald kommen und ihn vor allem Unheil schützen. Deshalb sagte er: „Mir geschieht nichts. Der Sohn der I-na-nua, Sil, wacht über mich. Er wird bald erscheinen und mich durch die Lüfte in die Stadt tragen.“
Welcher Geist ist in ihn gefahren, dachte der Priester mit bangem Unbehagen. Hat die Nachricht von der Belagerung seinen Sinn verwirrt? — I-na-nua hatte doch keinen Sohn. Und durch die Luft vermochte ein Mensch doch auch nicht zu fliegen. Vorsichtig zog er sich ein paar Schritte zurück.
Der Priester schaute zum Mond, der jetzt schon hoch am Himmel stand. Eine Sternschnuppe zog dicht an seiner gelben Scheibe vorbei. Doch wie seltsam, sie erlosch nicht nach kurzem Flug, sondern flog weiter, kam zur Erde herab und fiel langsam geradewegs auf ihn zu. Über dem Fluß blieb der Stern, nun groß und hell, leise summend stehen. Ein matter rötlicher Strahl tastete das Flußufer ab.
Der Priester stand starr da und sah mit ungläubigem Staunen auf diese Erscheinung. Ia-du-lin lief heftig winkend über die Wiese und rief, unbekümmert um den Feind vor der Stadt, mehrmals laut: „Sil!“
Der Stern schwankte leicht, wich vom Fluß ab und setzte sich am Ufer auf der Wiese nieder. Der Nan-nar-Priester wandte sich um und rannte, von panischem Entsetzen gepackt, in die Dunkelheit davon.
Ia-du-lin trug die Meßsonde aus dem Boot herbei und ging auf den fliegenden Ring zu. Sil war schon ausgestiegen und kam ihm entgegen.
„Ich grüße dich, Ia-du-lin. Du brauchst unsere Hilfe? Wollen dir andere Menschen wieder Gewalt antun?“
Ia-du-lins Schritt stockte. Die wortreiche Begrüßung Sils verblüffte ihn. Der Himmelssohn war doch sonst immer schweigsam gewesen.
Sil sagte: „Unsere unsichtbaren Diener haben für uns bei den Sandwanderern das Sprechen gelernt. Wir können nun mit dir reden und auch alles verstehen, was du uns sagst.“
Ia-du-lin überwand seine Überraschung schnell und bat Sil, ihn in die Stadt zu bringen, die dort drüben von einem Flammenkranz umgeben sei. Dabei wies er mit ausgestrecktem Arm durch die Dunkelheit zur Lichterkette. Die Stadt sei seine Heimat und heiße E-rech. Er habe eine Botschaft, auf eine Tontafel geschrieben, bei sich, die er dem Herrscher der Stadt bringen müsse. Aber fremde, gewalttätige Krieger bewachten E-rech und ließen niemand hinein und heraus. Es sei die Absicht der Soldaten, bald in die Stadt einzudringen.
Gefangene zu machen und sie als Sklaven abzuführen.
Sil verstand den Myonendolmetscher, der Ia-du-lins Sprache in den Helmhörer übertrug, nicht vollständig. Worte wie „Sklaven, Gefangene, Soldaten und abführen“ waren ihm fremd. Er würde ihren Sinn erst noch durch eine Rückfrage bei der „Kua“ klären müssen. Soviel stand jedoch fest, daß Ia-du- lin in die Stadt wollte, aber von anderen Menschen daran gehindert wurde.
„Wir erfüllen dir gern diesen Wunsch“, sagte Sil. „Steig ein!“ Er hob die Sonde in den Ringflügler und schob auch das Reisebündel des Menschenfreundes hinein. Zaghaft kletterte Ia-du-lin über eine schmale Leiter durch die Luke. Sil führte ihn zu einem Sitz, der wie eine Schale aussah, und drückte ihn sanft hinein.
Nur kurze Zeit verblieb Ia-du-lin, um die verwirrende Umwelt, die so ganz anders war als das Zimmer im Feuervogel, zu betrachten. Das rötliche Licht erlosch, der Fußboden wurde durchsichtig, und Ia-du-lin sah den Fluß immer kleiner werden. Dabei fühlte er, wie der Boden des Zimmers schwankte. Dann vermochte er unter sich nichts mehr zu erkennen. Nur der Mond lief plötzlich am Himmel hin und her und schaute einmal von der einen und dann wieder von der anderen Seite in das fliegende Zimmer der Himmelssöhne.