„Du bist pünktlich zur Zeit des vollen Mondes zurück von deiner Mission, trotz des weiten Weges und trotz der Soldaten und der Wachfeuer vor den Mauern unserer Stadt. Berichte uns, was du gesehen hast und welche Lücke der Feind dir ließ“, forderte En-mer-kar seinen Boten auf.
„Großer Herrscher des Zweistromlandes!“ begann Ia-du-lin. „Der Gal-Uku-Patesi aus Ur wird morgen mit seinem Heer abziehen, wenn du, hoher Gebieter, heute nacht noch in den Tempel Nan-nars gehst. Dort erwarten dich die Söhne der I-na- nua, die dir ihre Gunst bezeigen, weil du der Göttin einen Tempel erbaust. Ihre Söhne Sil und Azul haben mich als ihren heiligen Priester auserkoren und mir zum Zeichen meiner Würde und als Beweis für die Richtigkeit meiner Botschaft an dich diesen heiligen Stein und diesen heiligen Mantel geschenkt. Als ich heute nacht im Boot nahe der Stadt anlangte und ein Nan-nar-Priester mich vor den Soldaten aus Ur warnte, erschienen die Himmelssöhne mit ihrem fliegenden Haus und brachten mich durch die Lüfte ungesehen in die Stadt. Jetzt weilen sie im Tempel des Mondgottes.“
Ein Beamter trat ein und flüsterte dem Herrscher etwas zu.
„Du hast wahr gesprochen, Ia-du-lin, großer Bote“, sagte der Herrscher danach. „Laßt uns die Götter befragen und sie um ihren Rat bitten.“
Sil und Azul betrachteten den großen Tempelsaal, den drei Reihen massiger Säulen zerteilten. Wie anders war das auf Heloid, wo auch nicht die dünnste Säule zu sehen war und sich dennoch bedeutend größere Hallenbögen wölbten. An den Wänden bemerkten sie neben Tier- und Mondbildern zahlreiche Darstellungen von Menschen, die in die steinernen Wände eingearbeitet waren.
„Was mag das für ein übergroßer Mann sein?“ fragte Sil seinen Gefährten. „In fast jedem Bild ist er dargestellt.“
„Seine Größe ist nur symbolisch und deutet die Macht an, die er besitzt und mit der er über die Menschen herrscht“, erklärte Azul, der sich schon an Bord der „Kua“ bei der Entzifferung der Tontäfelchen auftragsgemäß für alles interessiert hatte, was Auskunft über den Götterkult der Planetenbewohner gab. Sil und Azul gingen im Tempelsaal umher. „Auf diesem Bild bringen sie ihm das Ergebnis ihrer Arbeit, Pflichtabgaben oder Opfergaben für die Götter, Früchte der Felder oder der Gärten und Tiere.“
Auf einem anderen Bild ging ein großer Mensch kleinen voran. Er trug auf seinem Kopf einen mächtigen Korb. Azul mühte sich, die Schriftzeichen darunter zu entziffern. „Hier wird von einem Herrscher berichtet, der einen Bewässerungskanal bauen ließ“, sagte er dann. „Er trägt allen voran die ersten Ziegelsteine, mit denen das Kanalbett befestigt werden soll.“
Azul vermochte nicht alle Bilder zu erklären, auf die der helle Schein ihrer Handlampe traf. Manches erschien gar zu rätselhaft dargestellt. Häufig waren auf den Steinbildern Menschen zu erkennen, die, an den Händen mit einem Strick gefesselt oder mit einem Seil um den Hals, wie die Esel und andere Tiere im Zug mitgeführt wurden.
Einer der beiden Priester war fortgegangen und kam jetzt mit Stäben wieder, von denen offene gelbe Flammen züngelten. Er stellte sie zwischen den Säulenreihen auf.
„Wäre Sinio hier, würde er sagen: ›Merkwürdig, sie bevorzugen gelbes Licht.‹ Übrigens, mir fällt auf, daß uns die Menschenwesen nie direkt ansehen, sondern ihre Augen stets nur unseren Umrissen folgen. Auch wenn sie ihnen bekannte Gegenstände erblicken, umgleiten ihre Blicke sie so. Ihre Sehorgane sind also noch nicht soweit entwickelt wie die unseren.“
Azul unterbrach Sil und deutete auf ein Bild an der Wand, das nur eine Gestalt zeigte. Es war eine Frau, aus deren Leib Zweige mit Blättern herauswuchsen.
Lächelnd sagte Azuclass="underline" „Das soll unsere Mutter sein. Das ist die Göttin I-na-nua. Die Zweige und Blätter an ihr bedeuten, daß sie für die Natur, für das Leben und für die Geburt zuständig ist.“
„Dann haben wir eigentlich eine sehr wichtige Mutter, nicht wahr? Mir gefällt aber nicht, daß Ia-du-lin uns als Söhne der Göttin I-na-nua bezeichnet. Er macht uns damit zu Göttern“, sagte Sil unwillig.
Geräusche aus der Tiefe des Tempels ließen Sil und Azul aufhorchen. Leises Scharren und Raunen zog heran. Ein Luftzug durchwehte die düstere Halle und ließ die Flammen der Fackeln flackern. Starker gelber Lichtschein kam aus einem der Gänge, die in diesen Saal mündeten, und verschärfte die Schatten, die die Säulen warfen.
Die beiden Tempeldiener wurden unruhig. Sie gewannen ihre Sicherheit zurück und verloren zusehends ihr ängstliches Aussehen.
„Der Hohepriester!“ rief der eine dem anderen Tempeldiener zu.
Azul glitt schnell neben die zyklopische Statue des Mondgottes Nan-nar, weil von dort der Überblick besser war.
Sil blieb zwischen den Säulenreihen stehen und wartete voller Spannung. Plötzlich stürzten die beiden Tempelwächter aus ihren Nischen hervor, packten Sil und drängten ihn auf die andere, noch freie Seite der Statue. Sil war viel zu überrascht, als daß er widerstrebte. Er ließ sich wie eine Figur verrücken, die aus Versehen verstellt worden war und nun schleunigst auf den ihr gebührenden Platz geschoben wurde. Woher hatten die beiden Priester plötzlich den Mut genommen, ihn zu berühren und ihm ihren Willen aufzuzwingen?
„Wenn sie mich noch einmal berühren, neutralisiere ich die Antigravitationsplatte meines Skaphanders unter meinen Füßen“, sagte Sil zu Azul über den Sprechfunk. „Dann schwebe ich nicht mehr dicht über dem Boden, sondern stehe unverrückbar fest.“
Die ersten Gestalten, Fackelträger, traten aus dem Gang heraus. Sie wichen nach rechts und links aus und stellten sich dicht an die Mauer, die Fackel weit vor sich her haltend.
Wenige Schritte danach erschien mit gemessenen Bewegungen ein einzelner Priester, von dessen Schultern ein dunkles, sehr weites Gewand herabfiel, das selbst die Füße verhüllte und nur den Kopf frei ließ. Er war sparsam geschmückt. Mehrere ähnlich gekleidete Gestalten folgten ihm.
Die Gruppe der Oberpriester mit dem Hohenpriester an der Spitze schritt bis zur Mitte der Säulenhalle und verharrte dann, prüfend die Himmelssöhne musternd. Sie warteten auf eine Bewegung, auf ein Zeichen der fremden, noch nie gesehenen Götter.
Hinter den Oberpriestern kam ein langer Zug von Menschen herein. Sie waren wie der Hohepriester gekleidet, aber schmucklos. Am Ende der Halle drängten sie sich zusammen und reckten die Köpfe.
Der Hohepriester überlegte: In der höchsten Wissenschaft ihres Glaubens, in dem „Geheimnis der Vision“, hieß es seit einiger Zeit, I-na-nua wurde mit A-nu, dem obersten aller Götter, vermählt. Vielleicht war nun diese Zeit gekommen, und die Göttin schickte als Beweis ihre Söhne, um es zu verkünden. Vielleicht aber sollten diese beiden jungen Götter auch die Ämter ihrer Mutter übernehmen, damit sie sich ganz A-nu widmen und ihm zur Seite stehen konnte, wenn er die Götterwelt regierte. Ganz sicher aber schien ihm, daß die Götter gekommen waren, um der Stadt, die I-na-nua einen Tempel erbaute, Beistand zu geben gegen die Belagerer.
Einer der beiden Tempelwächter dachte? Der Hohepriester hat die Zeremonien, die sonst in mondhellen Nächten wie heute stattfinden, wegen der Belagerung abgesagt. Wenn er geahnt hätte, daß zwei Götter kommen, wäre wohl mindestens ein Opferfest vorbereitet worden. Mir scheint, wir werden in dieser Nacht doch noch Tempelmusik hören und feiern.
Azul fühlte, daß etwas geschehen mußte und daß sie hier nicht regungslos stehenbleiben durften. Die Menschenwesen erwarten irgendeine Geste, dachte er, ergriff eine Fackel und stieg von seinem erhöhten Platz herab. Er benötigte diese fahle gelbe Flamme nicht, um zu leuchten, denn für seine Augen war es hier im großen Tempelsaal trotz der Nacht hell genug, aber die Fackel wirkte auf ihn merkwürdig feierlich und schien zwischen ihm und den Priestern eine Brücke zu schlagen. Azul schritt auf die Gruppe der Ältesten-Priester in der Mitte des Säulensaales zu. Sie knieten nieder, als er sich ihnen näherte, und gleich ihnen sanken auch alle anderen im Saal ehrfurchtsvoll zu Boden.