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„Nimm die Fackel“, forderte er sanft, „und zeigt mir euer Haus.“

Der Hohepriester ergriff freudig die geweihte Fackel.

Da erschien plötzlich wieder Ia-du-lin. Sein eigentümlicher gelber Umhang und der wundersame Stein in seiner Hand fielen allgemein auf. Der Hohepriester gab ein Zeichen.

Tempeldiener führten Ia-du-lin, der dem Herrscher vorausgeeilt war, zur Statue des Mondgottes Nan-nar und gesellten ihn zu Sil und Azul.

Der Hohepriester gab erneut ein Zeichen. Ein Zug begann sich zu formieren, der sich dann feierlich an der Statue Nan- nars, an Sil, Azul und Ia-du-lin vorbeibewegte. Irgendwo im Hintergrund klangen dumpfe, schlagende Töne, vermischt mit anderen Geräuschen; eine rituale Tempelmusik.

Ia-du-lin registrierte voller Freude und mit wachsendem, stillem Jubel, daß hier der Zauber des geheimnisvollen Steines zu wirken begann und ihm unerwartet schnell hohe Ehre zuteil wurde. Gespannt verfolgte er den Gang der Dinge, wobei er immer wieder bestätigt fand, daß sich das Glück ihm voll und ganz zuwandte.

Der Prozessionszug war vorbei. Zwei kurzbekleidete Gestalten brachten eine große Schale mit Öl und stellten sie vor Azul zu Boden. Dann tauchten sie eine Fackel hinein, und sofort lohten und züngelten gelbe Flammen mit roten Spitzen dicht vor ihm hoch. Der lange Zug der Priester hatte diesmal nur wenige Schritt entfernt Aufstellung genommen. Sie begannen im Rhythmus der Tempelmusik kaum merklich ihre Körper zu bewegen. Azul verblüffte es, daß diese Bewegungen stark ihrem Gang ähnelten, wenn sie den Raumanzug anhatten: ein wenig schwankend und wiegend. Das dauerte so lange an, bis die Schale leergebrannt war und der Zug sich erneut in Bewegung setzte. An der Spitze gingen Azul, Sil, Ia-du-lin, der Hohepriester und die Oberpriester. Zu den Fackelträgern, die vorausschritten, gesellten sich noch Tempeldiener mit Stäbchen, von denen weißlicher Dunst aufstieg.

Der Zug verließ den großen Saal und bewegte sich durch Gänge. In kurzen Abständen knieten zu beiden Seiten vornübergeneigt murmelnde Priester.

„En-mer-kar wartet draußen auf dem Tempelplatz. Er möchte euch kennenlernen und mit euch sprechen“, flüsterte Ia-du-lin Sil und Azul zu. „Nach dem Umzug wird er in den Tempel kommen.“

Azul wies auf die knienden und murmelnden Priester rechts und links des Ganges. „Was tun sie?“

„Sie beten.“ Und als er merkte, daß Azul das nicht so recht verstand, erläuterte er noch: „Sie loben und preisen euch Himmelssöhne, danken den Göttern, daß ihr gekommen seid.“

Der Hohepriester verhielt jedesmal seinen Schritt ein wenig vor den Betern, so daß auch Sil und Azul kurz verweilen mußten. Der Gang mündete in einen kleineren Raum. Hier stand ebenfalls die Statue des alten Mannes mit der Mondsichel. Doch weniger Bildnisse schmückten die Wände, und in der Mitte lag ein Ziegelwürfel, von tiefen Kerben überzogen. Unwillkürlich blieb Sil vor diesem: Würfel stehen.

Wozu mochte er dienen? Das Murmeln der Beter, die überall anzutreffen waren, erstarb, und auch die hackende Tempelmusik verstummte.

„Willst du, Himmelssohn Sil, Opfer?“ fragte Ia-du-lin leise.

Noch stärker als er deuteten die Priester das Verweilen des Gottes vor dem Opfertisch. ES schien ihnen ein Zeichen besonderer Weihe und des Wohlwollens des neuen Gottes zu sein.

Schnell ging Sil weiter. Also ein Opfertisch war das, auf dem Tiere, wie die Tontafeln berichteten, geschlachtet wurden, um damit eine besondere Bitte der Menschen, etwa nach Regen und nach reicher Ernte, zu bestärken. Er spürte Widerwillen.

„Nein, keine Opfer“, antwortete er hastig.

Als die Gruppe der führenden Priester mit Azul, Sil und Ia- du-lin wieder auf den Gang hinaustrat, stand ein hellhaariger Esel bereit, der vor Azul einhergeführt wurde. Ia-du-lin verzog sein Gesicht, erklärte dann aber, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: „Das ist ein heiliger Esel. Er gehört dem Hohenpriester.“

Azul verstand zwar nicht, warum der Esel heilig war und warum das Tier nachts im Haus herumlaufen mußte, aber er begriff, daß es eine besondere Ehrung für ihn sein sollte.

Der Prozessionszug bewegte sich weiter durch andere Räume. Die Tempelmusik hatte wieder eingesetzt. Ein neuer Raum tat sich auf. Er war mit Matten ausgelegt. Auf ihnen knieten viele Priester und Tempeldiener. Es wird ein besonderes Zimmer für die Beter sein, dachte Azul. In einem anderen Raum sah er ganze Stapel von Tontafeln.

„Die Tempelschule“, flüsterte ihm Ia-du-lin zu. „Hier werden die einfachen Weisheiten gelehrt: Schreiben, Rechnen, Sternbeobachtung und Sterndeutung. In dieser Tempelschule habe ich auch einmal gelernt.“

Dann öffnete sich ihnen wieder die große Säulenhalle.

Kurze Zeit nur verging, als erneut gelber Fackelschein aus einem Gang hervorflackerte. Fünf Gestalten kamen aus ihm heraus und betraten den großen Säulensaal. Voran schritt ein langer und schwerer Mann mit breitem Gesicht, dichten, bis auf die Schulter reichenden Haaren und eckigem Bart. Unter dem engen, groben Lederüberwurf sahen kräftige, muskulöse Beine hervor. Das war En-mer-kar. Ihm folgten der Nubanda und andere Ratgeber und Beamte. Durch die Reihen der Priester lief beim Erscheinen des Herrschers Bewegung.

En-mer-kar hielt Abstand von den beiden fremden Göttern. Er verneigte sich leicht. Die anderen vier Würdenträger aber knieten nieder.

Sil fühlte, daß ein großer Augenblick bevorstand, und ihm drängte sich die Frage auf: Was sind eigentlich Priester? Dieses Wort war oft in den Ideogrammen aufgetaucht, aber verstanden hatte er es bis jetzt noch nicht. Es schienen ihm Menschen zu sein, die sich die Aufgabe gestellt, hatten, große Bauwerke zu behüten und zu pflegen. Ihnen oblag wohl auch, kulturelle Werte zu schaffen und wichtige Ereignisse sowie das Abbild des Menschen in Stein zu formen. Nicht anders als so vermochte Sil diese große Statue zu verstehen, zu deren Seite sie standen und die die Menschen einen Gott nannten. Es war eindeutig als eine Menschenfigur zu erkennen, als die Gestalt eines alten, weisen, ehrwürdigen, etwas hageren Menschen, der eine Mondsichel in der Hand hielt und der vielleicht ein bedeutender, aber schon verstorbener Astronom war. Sil wußte von den Tontäfelchen, daß die Priester sich auch dieser Wissenschaft widmeten. Sicher versammelten sie sich jetzt hier, um sie, Gäste aus dem All, trotz der nächtlichen Stunde feierlich zu empfangen. Ich muß zu ihnen sprechen, dachte er.

Sie warten darauf. Schnell verständigte er sich mit Azul darüber.

„Menschenwesen!“ begann er. „Wir, Azul und ich, Sil, sind Bewohner eines fernen Sternes. Auf unserer Wanderung von Stern zu Stern gelangten wir auch zu eurer Welt und stiegen zu euch herab. Wir wollen euch, euer Leben und eure Gewohnheiten kennenlernen, damit wir unseren Gefährten von euch berichten können. Ich bewundere eure großen Häuser und besonders dieses hier, in denen ihr die Wissenschaften pflegt und in denen ihr große Statuen schafft. Ia-du-lin, der uns hierhergeführt hat, hat uns jetzt auch mit En-mer-kar, eurem obersten Beschließenden, bekannt gemacht. Wir sind erfreut, daß ihr so zahlreich erschienen seid, um uns zu begrüßen.

Fürchtet euch nicht vor uns, auch wenn wir eine Gestalt haben, die euch erschreckt. In Wirklichkeit sehen wir euch ähnlich.

Was ihr seht, ist nur unsere äußere Hülle, die wir aber nicht verlassen dürfen, weil wir sonst sterben müßten. Wir bitten, bei euch verweilen zu dürfen.“

Armer Sil. Er ahnte nicht, wie so ganz anders seine Worte von den Priestern aufgenommen wurden. Er, der ehrlich bemüht war, den Götternimbus, der sich immer dichter um sie wob, zu beseitigen und den Menschen in einfachsten Worten ihre Herkunft zu erklären, war von Anfang an dazu verurteilt, gegen den eingefleischten Götterglauben zu verlieren.