In der Stadt hatten die Priester des Tempelbezirkes inzwischen dafür gesorgt, daß die Bewohner E-rechs — die Männer, Frauen und Kinder, die Soldaten und Beamten, Wasserholer, Händler, Kaufleute, Flußschiffer, Lasttiertreiber, Schreiber, Töpfer und all die anderen — von der Anwesenheit der Himmelssöhne und dem fliegenden Haus erfuhren. So kam es, daß zwar ein jeder furchtsam zu dem fliegenden Haus der Götter aufsah, als es sich über den Tempeltürmen zeigte, daß aber niemand in panischer Angst davonrannte.
Mit freudigem Geschrei sammelten sich die Leute, als vom Palast her der Herrscher En-mer-kar, begleitet vom Hohenpriester auf dem heiligen Esel, vom Nubanda und anderen hohen Beamten, von Ia-du-lin und Offizieren der Leibgarde durch die Gassen und Straßen zum Südtor schritt. Es ging das Gerücht, die Himmelssöhne hätten in dieser Nacht eine Botschaft der Götter im Tempel des Nan-nar verkündet und Frieden gefordert. Der Herrscher gehe nun vor die Stadt, um das feindliche Heer zu vertreiben.
Die Soldaten En-mer-kars auf den Wällen, Türmen und Mauern sahen, wie die Wachposten aus Ur davonrannten, als der fliegende Ring erschien. Sie sprangen auf, kletterten von ihren Posten herab und liefen ihnen schreiend und waffenschwenkend nach, um die Belagerer vollends in die Flucht zu schlagen. Aber da kam plötzlich der fliegende Ring zurück und zog zwischen ihnen und den Feinden einen feurigen Strich, aus dem Funken stoben, Flammen loderten und Rauch und Dampf emporquollen. Die Soldaten hielten erschrocken inne und wagten nicht, diesen feurigen Strich zu überschreiten.
Als dennoch ein junger Offizier darüber hinwegsprang, senkte sich der fliegende Ring herab. Der junge Offizier duckte sich betroffen hinter einem großen Feldstein nieder, sprang dann aber wieder auf, als eine furchtbare Gestalt aus dem Haus der Götter fiel und auf ihn zuschwankte. Er rannte zurück bis in die Stadt hinein. Hinter ihm zersprang der Feldstein gräßlich knackend und prasselnd in unzählige Stücke. Der unsichtbare Feuerhammer des Gottes hatte ihn zur Warnung zerschmettert.
En-mer-kar, Ia-du-lin und die anderen aus der Begleitung des Herrschers erreichten mittlerweile das Südtor. Sie wurden Zeuge, wie die Himmelssöhne das Feuer vom Himmel warfen und so die Soldaten E-rechs daran hinderten, Leute aus Ur zu töten. Schleunigst gab En-mer-kar seinen Offizieren den Befehl, die Soldaten vom Vorfeld der Stadt auf die Mauern und Wälle zurückzuziehen. Nichts wäre im Augenblick schrecklicher, als die Söhne der I-na-nua zu erzürnen, die dann gewiß ihren strafenden Feuervogel herbeirufen würden.
Wer vermochte zu sagen, ob sich dann der Sinn der Götter nicht wandelte und sie den Gal-Uku in die Stadt einziehen ließen.
Ia-du-lin eilte dem Zug En-mer-kars voraus. Sein gelber Umhang leuchtete weithin sichtbar. Er schritt geradewegs auf den Gal-Uku-Patesi zu, der in ihm sogleich den Tamkare En- mer-kars erkannte. Ia-du-lin unterrichtete den Heerführer davon, daß der Herrscher E-rechs persönlich zu ihm komme, um ihm eine Botschaft A-nus, I-na-nuas, Nan-nars, Nin-Gals und der anderen Götter zu überbringen. Diese Botschaft sei heute nacht von den beiden Söhnen der I-na-nua verkündet worden. Niemand brauchte jedoch die beiden Götter, die En- mer-kar zusammen mit dem fliegenden Ring begleiteten, zu fürchten, es sei denn, daß jemand seine Waffe erhebe und die beiden Himmelssöhne dadurch erzürne.
Dann trat Ia-du-lin zur Seite und hüllte sich in Schweigen. Er sah, daß die Gunstbezeigung der Himmelssöhne für E-rech auf den Gal-Uku-Patesi einen starken Eindruck machte.
Erbitterung und Argwohn spiegelten sich in den Mienen des mächtigen Mannes aus Ur wider. Ia-du-lin fühlte Triumph aufsteigen. Der Gal-Uku mochte wohl ahnen, was für eine Niederlage sich ihm anbahnte.
Ia-du-lin hatte den Heerführer so laut über den nahenden Zug und dessen Absicht informiert, daß die Umstehenden es hörten und die Nachricht unter den Soldaten verbreiteten. Keiner der Offiziere dachte daran, die Soldaten aufzustellen und für den Empfang zu ordnen. Erst als die Feldpriester, die schon im Morgengrauen durch geheime Boten von den nächtlichen Ereignissen im Tempel des Nan-nar erfahren hatten, beschwörend durchs Lager liefen, nahmen die Soldaten widerwillig Aufstellung.
Langsam kam der Zug En-mer-kars näher. Sil und Azul waren aus dem Ringflügler ausgestiegen. Sie begleiteten En- mer-kar, in ihren schweren Raumanzügen eigentümlich anzusehen, bis mitten in das Lager. Der Ring folgte ihnen, vom Pilotron automatisch gesteuert, in geringer Höhe.
Der Zug benutzte ausschließlich die vorhandenen Wege und vermied es, über die Felder zu kommen. Der Nubanda, bereits an seine Amtsgeschäfte denkend, sah umher. Nur wenige Felder des Palastes, die das Korn, Gerste und Spelzweizen trugen, waren abgeerntet gewesen, als vor einigen Tagen das Heer aus Ur erschien. Viele Kornschläge waren daher verwüstet. Die Soldaten des Gal-Uku hatten sie zerstampft, oder die Herden, die sie mitführten, hatten sie abgefressen.
Man könnte noch einiges retten, würden gleich heute Soldaten und Sklaven zur Ernte herbeordert. Schon aus diesem Grunde erschien dem Nubanda der Rat der Himmelssöhne besonders klug und weise. Sie hatten wirklich alles bedacht.
Azul fand diese Komödie wunderlich. Wer ihm sechs Lichtzeiten von hier, als er darauf drängte zu landen, gesagt hätte, er würde den Götzen spielen und einen der Mächtigen der Bewohner eines heißen Planeten auf seinem Wege zu einem anderen Mächtigen begleiten, um ihnen das Töten auszureden, dem hätte er es nicht geglaubt. Sils liebenswerter Glaube, den Bewohnern des blauen Planeten nützlich sein zu können, hatte sie in diese eigenartige Situation gebracht.
Sil beobachtete aufmerksam und wachen Sinnes alle Vorgänge um sich herum. Seine Absicht, die Menschenwesen davor zu bewahren, sich gegenseitig zu vernichten, schien zu gelingen. En-mer-kar hatte noch in der Nacht mit sehr viel Aufwand und Tatkraft alle Vorbereitungen getroffen, um die „Botschaft der Götter“ in die Tat umzusetzen. Wenn der Herrscher weiter so darauf bedacht war, das Leben seines Volkes zu schonen, würde Sil vielleicht auch wieder vergessen können, daß En-mer-kar ihren Beistand zum Töten gefordert hatte. Sil war sehr froh gewesen, als sich der Herrscher erbot, seinem Widersacher den Plan der Vernunft selbst zu unterbreiten.
Inzwischen waren sie an ihrem Ziel angelangt. Die Herrscher der beiden benachbarten Städte E-rech und Ur standen sich gegenüber. En-mer-kar neigte leicht den Kopf und sprach: „Kühner und emsiger Gal-Uku-Patesi! Als treuer Diener der Götter, der darauf achtet, daß in den Tempeln täglich geopfert wird und daß die Weisheit und Güte der Götter stets gelobt und gepriesen werden, habe ich die hohe Gunst des Himmels erworben. Die Götter haben sich mir offenbart und die beiden Söhne der I-na-nua, Gemahlin unseres obersten Gottes A-nu, mit einer Botschaft herabgesandt. Sie zürnen uns ernstlich.
Warum auch, kühner und emsiger Gal-Uku-Patesi, hast du dich mit deinem Heer vor die Tore meiner Stadt begeben und dadurch die Götter herausgefordert? Sie wollen, daß kein Streit zwischen uns entstehe. Sie verlangen, daß deine Krieger zurückkehren und alle Waffen eingesammelt werden. Die Männer sollen Arbeitsgeräte ergreifen, um den Reichtum unseres Landes zu mehren. Herrscher im Zweistromland soll sein, wer die geringste Not in seiner Stadt hat und in wessen Tempeln I-na-nua wohnt. I-na-nua aber wohnt in E-rech, deren Menschen ihr zu Ehren einen neuen Tempel erbauen. Wenn du den Willen der Götter nicht erfüllst, werden die Himmelssöhne einen Feuervogel herbeirufen, dessen hundert heiße Zungen jeden Ungehorsam hinwegtilgen. Frage Ia-du-lin. Als mein Tamkare hat er die Himmelssöhne hierhergeführt. Er hat auch den Feuervogel gesehen, riesig groß, und er wird dir berichten können, wie unter seinem brüllenden Atem die Steine lebendig werden und Rauch aus allen Erdspalten hervordringt.“
En-mer-kar neigte abermals leicht seinen Kopf, trat etwas näher und sagte leise: „Und jetzt bitte ich, dich allein sprechen zu dürfen.“