Zwei Wochen später traf die Nachricht ein, daß die Boote En- mer-kars gut in Ma-ri angekommen und das Getreide schon auf der Karawanenstraße unterwegs, daß aber die Sendung aus Ur von einem Stamm der Sandwanderer überfallen und ausgeraubt worden sei.
Der Gal-Uku-Patesi, der das Spiel durchschaute und ahnte, wer ihm diesen Verlust trotz aller Freundschaftsbeteuerungen zugefügt hatte, schickte einen seiner Offiziere nach E-rech. Er forderte den Schleuderstrick, das Zeichen ihres Bündnisses, von En-mer-kar zurück.
En-mer-kar schickte den Schleuderstrick und eine Tontafel, auf der geschrieben stand: „Teurer Freund! Zutiefst bedauere ich den Ratschluß der I-na-nua, die mein Vorhaben, das ich dir anvertraute, gelingen läßt, während sie das deinige zunichte machte. Ich leide mit dir, weil die Göttin deine Opfer ablehnt und du deshalb unseren Bund verachtest.“
Heuchler, dachte der Gal-Uku-Patesi wütend, als er diese Worte las. Er beschloß, erneut gegen En-mer-kar in den Kampf um das oberste Kriegsrecht im Zweistromland zu ziehen, sobald Sil und Azul zu A-nu und I-na-nua in den Himmel zurückgekehrt waren.
Sil und Azul studierten in den folgenden Tagen das Leben der Menschenwesen in E-rech. Azul ging in den Tempeln umher, suchte Tontafeln und flog häufig zur „Kua“, um sie entziffern zu lassen. Schnell lernte er den Götterkult des Zweistromlandes kennen.
Sil bevorzugte es, durch die Gassen der Stadt und auf das Land vor den Toren zu gehen. Er wollte die Produktionsstätten der Menschenwesen aufsuchen. Die Bewohner E-rechs gewöhnten sich nach und nach an seine Erscheinung, an seinen Skaphander. Zuerst war man vor ihm davongelaufen und hatte sich in den Häusern und Hütten versteckt. Und das, obwohl jeder Bewohner wußte, daß sie, die Himmelssöhne, allen Menschen nur Gutes gebracht und ihnen Belagerung und Krieg erspart hatten. Wären nicht die Priester gewesen, von denen stets zehn oder fünfzehn Sil umgaben, und hätte ihn Ia-du-lin nicht ständig begleitet, würde wohl auch jetzt noch ein jeder vor ihm flüchten. So aber sah man, daß den Priestern und auch Ia-du-lin nichts geschah. Die Bettler und Sklaven waren die ersten, die herausfanden, wie ungefährlich es war, wenn man sich an die Hauswand drückte und den Zug passieren ließ. Von da an schlug das Verhalten vieler Menschen in dieser Stadt von einem zum anderen Tag um.
Bei seinem ersten Gang durch die Stadt betrachtete Sil die Bauten. Aus der Luft, vom fliegenden Ring her, bot E-rech einen kreisförmigen Anblick von ineinandergeschachtelten Wohnzellen. Unzählige Rinnen, die Straßen und Gassen, durchschnitten diesen Kreis, auseinanderlaufend, sich kreuzend und wieder begegnend. Lediglich die Bauwerke des Palastes am Rande der Stadt und das Tempelviertel im Zentrum mit seinen Monumentalbauten lösten sich wohltuend geordnet aus dem Wirrwarr der übrigen Stadtteile heraus.
Vom Boden her erkannte Sil, daß die meisten der Menschenwesen in Bauten aus mehreren Zellen wohnten, die einen engen, einfachen Hof umschlossen. Die Wände der kleinen Häuser waren aus gelbem Erdreich hochgeführt oder bestanden aus langen, dichtgeflochtenen Halmen.
Sil fand einmal nahe der Stadtmauer ein Haus mit einem Hof, der zur Gasse hin offen war. „Hier wohnt ein Wasserträger“, erklärte Ia-du-lin und wies auf die vielen großen und bauchigen Tonkrüge, die ringsherum den Hof säumten. Ein älterer Mann hatte eben einer Frau ein Gefäß mit Wasser gefüllt. Sie trug es auf dem Kopf hinweg. „Es ist A-kim, der bekannt ist wegen der Reinlichkeit und Frische seines Wassers, das er mit seinem Esel von einer Quelle weit vor der Stadt herbeischafft“, erzählte Ia-du-lin.
Sil sah durch eine Öffnung in das Innere der Wohnzellen A- kims. Aus Stroh geflochtene Matten bedeckten den Boden und die Wände. In einem großen Würfel aus gleichmäßig geformten, harten Steinen brannten Flammen. „Ein Herd aus Ziegeln ist das, auf dem A-kim sein Essen bereitet“, erfuhr Sil. Kleine rote, schwarze und dunkelbraune Gefäße geometrisch spärlich verziert, standen hier und da an den Wänden oder in den Ecken am Boden. Es waren Schüsseln und Töpfe.
Sil, Ia-du-lin und die Priester gingen weiter. Nahe dem Palast und um das Tempelviertel standen, so bemerkte der Raumfahrer, andere Häuser, größer und fester gebaut. Sie gehörten wohlhabenderen Menschen. Diese Häuser hatte man zu ebener Erde aus Ziegeln errichtet und darauf noch ein Stockwerk aus Holz und Lehmplatten gesetzt. In ihren zehn bis vierzehn Räumern waren alle Wände sorgsam glatt verstrichen und weiß gefärbt.
Tage später, als niemand mehr vor ihm davonlief und sich versteckte, bat man Sil, in eines dieser Häuser hineinzukommen. In ihm wohnte, wie sich herausstellte, der Dug-gur En-mer-kars, der Verwalter aller Lager des Herrschers. Er empfing Sil, Ia-du-lin und das Priestergefolge überschwenglich und mit großem Redeschwall. Sil hatte Mühe, durch die niedrige und enge Tür in das Haus zu gelangen. Es war auch schwierig für ihn, sich in den Wohnzellen der Menschenwesen aufzuhalten, weil ihm der Skaphander es erschwerte, sich in diesen Räumen zu bewegen.
Sil trat deshalb auf den großen, heilen und geräumigen Hof hinaus. Er war sauber mit Steinplatten ausgelegt, und seine Mitte schmückte ein Brunnen. An mehreren Stellen blühten Blumen und grünten Pflanzen. Rundherum waren Räume, die man vom Hof her betreten konnte. Die Türöffnungen ließen sich alle durch schwenkbare Holzplatten verschließen. Es gab sogar viereckige Fensteröffnungen, die, wenn sie nicht gleichfalls mit einer Holztafel zu verdecken waren, zumindest mit einem Gewebe oder einem Fell verhängt werden konnten.
Inzwischen hatte Sils Gefolge die Vorhalle passiert. Dort war ein großes Wasserbecken aufgestellt, in dem jeder Besucher seine Hände und Füße von Staub, den Gesetzen der Höflichkeit folgend, reinigen mußte.
Der Dug-gur stellte dem Himmelssohn seine drei Söhne vor.
Ihm war anzumerken, daß er sehr stolz auf seine Kinder war, die bereits alle zur Tempelschule gingen und später einmal hohe Ämter einnehmen sollten.
„Hast du keine Töchter?“ fragte Sil teilnahmsvoll. Auf Heloid wäre darüber ein jeder traurig gewesen. Es gehörte einfach zur Harmonie der heloidischen Wohngemeinschaften, daß unter ihnen Jungen und Mädchen in gleicher Anzahl aufwuchsen. Seit langem erreichte man das dort mit den Mitteln der Geburtenbeeinflussung.
Sil wunderte sich auch darüber, daß der Dug-gur nicht seine Lebensgefährtin vorstellte. Ob sie wohl gar schon gestorben ist, fragte er sich im stillen? Unwillkürlich sagte er daher feierlich: „Gruß der Mutter deiner Kinder! Dank ihr, sie ist das Leben!“
Der Dug-gur stand einige Augenblicke still und lauschte dem eigenartig achtungsvollen Klang dieser Worte des Himmelssohnes nach. Dann blickte er sich im Kreise um, aber niemand schien diese Worte verstanden zu haben.
Schnell sprach er weiter und erklärte seinem hohen Besuch den Zweck aller Räume seines Hauses. Er eilte von Tür zu Tür und schwenkte die Holztafeln zur Seite. Neben der Vorhalle mit dem Wasserbecken gab es einen Empfangsraum, dick mit Matten, Fellen und Kissen ausgelegt. Daran reihten sich Küche, Wohn- und Schlafräume. Eine steinerne Treppe führte hinauf zum Rundgang des oberen Stockwerkes, der von einer hölzernen Balustrade eingefaßt war. Von diesem Rundgang aus zweigten die Räume der Söhne und die Gastzimmer ab.
„Meine vier Töchter und die Mutter der Kinder wohnen zusammen mit den Sklaven in einem Nachbargebäude bei den Eseln, Ochsen und Ziegen“, sagte er schließlich nebenher.
Jetzt war es Sil, der einige Augenblicke regungslos stand.
Frau, Töchter und Sklaven wohnten bei den Tieren im Stall, obwohl in diesem Lande als oberste Gottheit die Mutter der Erde, der Fruchtbarkeit, des Lebens verehrt wurde. Endlich sagte Sil mühsam beherrscht: „Deine Frau und deine Töchter sollten ebenso wie du und deine drei Söhne in diesem Haus wohnen. Sie zählen doch zu deiner Familie und nicht zu dem Vieh. — Den Sklaven solltest du die Freiheit geben. Sie sehnen sich in ihre Heimat zurück.“