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Viele Menschen liefen schreiend auf die Straße hinaus.

Doch plötzlich, schon nach wenigen Sekunden, lastete unheimlich wieder Dunkelheit und Stille auf der Stadt und dem Land. Die Angst der aus dem Schlaf geschreckten Menschen stieg noch mehr und verschloß ihnen den Mund.

Nur der Klageruf einer Frau stand dünn und grell in der Luft.

Kinder weinten.

Hunde winselten.

Tausend Ohren lauschten furchtsam.

Doch nichts geschah.

In den Häusern der Lu-guls rief man nach dem Öllicht. Die nackten Sohlen der Sklaven tappten.

Auf der Straße klang hart ein eiliger Schritt auf. Ia-du-lin hastete zum Tempelbezirk, im Arm den kleinen Obelisk der Meßsonde.

Was wollten die Himmelssöhne? Warum sprang ihr weißer Feuervogel so nahe der Stadt zu Boden? Seitdem Azul verschwunden war, kannten sie keinen ruhigen Augenblick mehr. Rastlos suchten sie den ganzen Tag über das Land ab.

Zuerst hatten sie gehofft, die Priester könnten ihnen sagen, wohin Azul gegangen war. Überall hatte Sil gefragt. Aber niemand hatte den zweiten Sohn der I-na-nua gesehen. Dann war Sil davongeflogen. Bald kam er mit einem riesigen Felsklotz zurück, der, als er ihn zu Boden ließ, rasselnd mit breiten, kralligen Tatzen die Wege und Gräben entlangkroch.

Niemand wagte sich mehr aus der Stadt. Die Soldaten schlossen sogar die Tore. Nur A-kim, der Wasserträger, folgte mit seinem Esel dem Ungeheuer, nachdem er gesehen hatte, daß der kriechende Felsklotz den Himmelssöhnen wie ein artiges Hündchen gehorchte.

Ia-du-lin erreichte den Tempelplatz, überquerte ihn und ging um den Tempel des Mondgottes herum zum dahinterliegenden Hof. Sil würde sagen können, was der brüllende Schrei des Feuervogels zu bedeuten hatte. Ia-du-lin achtete nicht der dunklen Gruppen der Priester, die sich, Gebete murmelnd, überall niedergelassen hatten. Die Bewohner der umliegenden Straßen kamen in Scharen auf den Tempelplatz und ließen sich, ebenfalls betend, vor der Ziggurat zu Boden gleiten. Es hieß, der Hohepriester sei auf dem Turm und bitte die Götter um ihr Wohlwollen.

Der Tamkare stieß die niedrige Pforte in der Mauer zum Tempelhof auf und schlüpfte hindurch. Der Hof war leer. Ia- du-lin blieb stehen und zog unmutig die Stirn kraus. Wohin mochte Sil geflogen sein?

Ein Schatten löste sich von der Rückfront des Nan-nar- Tempels und eilte auf ihn zu. Es war ein Bote des Hohenpriesters, der wohl geahnt hatte, daß Ia-du-lin hierher kommen würde. „Der Sohn der I-na-nua hat sich mit dem fliegenden Ring in Richtung der Hügel mit den Grabkammern erhoben, kurz bevor der brüllende Flammenschein über die Stadt fiel“, sagte der Bote.

Ia-du-lin kehrte stracks um und hastete zurück. Diesmal war eines der Stadttore sein Ziel. In den Straßen wuchs der lautlose Zug der Leute zum Tempelplatz. Sogar Soldaten gingen mit der Menge. Der Tamkare rief einige an und forderte sie auf mitzukommen. Nur widerwillig gehorchten sie.

„Der kriechende Felsklotz der Himmelssöhne“, berichtete der Offizier der Wachmannschaft am Tor, „hatte sich um Mitternacht nahe der Mauer zur Nachtruhe niedergelassen. Als die erste Wache abgelöst wurde, raste er plötzlich in Richtung der Gräberfelder davon. Er riß alles nieder, was ihm im Wege stand. Wir hörten es noch weithin krachen und splittern. Dann ertönte die feurige Himmelsposaune.“

Der Tamkare stand lange mit den Soldaten auf der Stadtmauer. Sie starrten in Richtung des Hügellandes und lauschten angestrengt in die Dunkelheit. Fern zwischen den Hügeln mahlte es, kaum hörbar.

Bald zeigte sich gen Morgen der schwache Schein des neuen Tages. Da taumelten zwei Gestalten durch das Morgengrau, sich gegenseitig stützend. Vor dem schweren Bohlentor stürzten sie nieder. Ia-du-lin kletterte von der Stadt mauer herab und ließ das Tor öffnen. Die beiden keuchten. Sie mochten wohl weite Strecken schnell gelaufen sein. Es waren zwei der Priester, die Totenwache im Hügelland zu halten hatten.

„Die Toten kommen“, stieß der eine hervor, als er die Augen aufschlug und das Gesicht eines Soldaten über sich erblickte.

„Sie leben noch alle. Die Grabhöhlen sprangen auf, als die Himmelssöhne auf ihrem Feuer herabfuhren.“ Der Priester schöpfte Atem und blickte sich ängstlich um. Mit schwacher Handbewegung zeigte er auf den anderen Priester. „Führt ihn“, sagte er matt, „das Feuer hat ihn geblendet. Ich fand ihn unterwegs. Er…“ Der Priester schrie auf und duckte sich. Der fliegende Ring schwirrte niedrig und langsam über sie stadteinwärts hinweg.

Die Soldaten sahen sich scheu an.

Da mahlte es wieder in der Ferne. Das Geräusch kam diesmal rasch näher. Der kriechende Felsklotz der Himmelssöhne schien auf der breiten Prozessionsstraße daherzukommen, die das Höhlengebiet mit der Stadt verband und geradewegs auf das Halbrund des Tempelplatzes führte. Die Soldaten zogen sich furchtsam hinter die Mauer zurück. Gern hätten sie auch das schwere Bohlentor geschlossen. Doch Ia-du-lin verbot es ihnen.

Aus den grauen Nebelschwaden, die wie jeden Morgen dicht über dem Boden hin und her wogten, tauchte plötzlich ein seltsamer Zug auf: halbnackte, ausgemergelte Gestalten.

Sklaven dreier vor wenigen Tagen gestorbener Lu-guls.

Voran schritten ein hagerer Mann, ein Mädchen, fast noch ein Kind, und ein Jüngling. Hinter ihnen bewegte sich der hohe Kegel Azuls auf der Straße. Weitere Gestalten zogen heran, hohlwangig, mit tiefliegenden Augen und sich gegenseitig stützend. Das Gift der Droge hatte ihre Haut gelb gefärbt.

Azul erblickte Ia-du-lin und winkte ihm, an seiner Seite zu gehen. Der Tamkare zögerte. Er ahnte, was geschehen war. Es widerstrebte ihm, es gutzuheißen. Was die Himmelssöhne taten, war wider die althergebrachte Ordnung. Doch durfte er sie mißtrauisch werden lassen? Er gesellte sich zu Azul.

Der Hagere wandte sich um und blickte unwillig und zornig auf Ia-du-lin.

„Wir brauchen ihn“, beschwichtigte ihn Azul.

„Weshalb kam euer Feuervogel?“ fragte Ia-du-lin.

„Ich rief ihn, Unheil zu verhüten“, antwortete Azul. „Eure Priester hatten die Sags und Ur-dus mit den toten Lu-guls eingemauert und sie Gift essen lassen. Wir Sternenwanderer können nicht tatenlos zusehen, wenn Lebewesen sinnlos sterben. Wir achten das Leben!“

Der Tamkare verstand den Vorwurf nicht, der deutlich aus den Worten des Himmelssohnes zu hören war.

Der kriechende Felsblock hatte den Zug erreicht und fuhr langsam hinterdrein. Eine große Scheibe glomm rot bei ihm auf. Sie wärmte fühlbar den Rücken.

Der Zug durchschritt jetzt die Stadt. Hier war die Prozessionsstraße noch breiter als vor dem Tor draußen auf dem freien Feld. Es war die einzige breite Straße in E-rech. Zu beiden Seiten standen in gleichmäßigen Abständen steinerne Bildnisse, aus grünglasierten Ziegeln kunstvoll zusammengesetzt. Sie berichteten aus dem Leben der Götter.

Im fahlen Frühlicht ging kalter, matter Glanz von ihnen aus.

Ia-du-lin wagte nicht zu fragen, warum Azul verschwunden war. Des Himmelssohnes eisiges Schweigen und sein starres, schwebendes Gleiten beunruhigten ihn. Oder war es die Stadt, die plötzlich unbewohnt zu sein schien und die im grauen Morgenlicht Furcht einflößte? Nirgends waren Menschen zu sehen.

Doch, dort vorn am Ende der Prozessionsstraße, auf dem weiten Halbrund des Tempelplatzes, brodelte es. Wie einem geheimen Befehl folgend, waren inzwischen die Menschen der Stadt dort zusammengeströmt. Die Menge begann hin und her zu wogen, als der Zug der Auferstandenen aus den Grüften vor der Stadt sich ihr näherte. Eine breite Gasse bildete sich und ließ ihn hindurch. Nur das rasselnde Ungeheuer blieb am Rande des Platzes stehen. Eine große Klappe öffnete sich an seiner Seite. Ia-du-lin sah, wie Bahren herausgeschoben wurden. Zugedeckte Gestalten, von denen nur die müden und eingefallenen Gesichter zu sehen waren, lagen auf ihnen. Der Hagere tauchte in der Menge auf, winkte den umstehenden Sklaven und rief ihnen etwas zu. Sie sprangen herbei, packten die Bahren und trugen sie zur Freitreppe der Ziggurat.