Der Himmel im Osten färbte sich in purpurnem Frührot der aufgehenden Sonne. Es umrahmte den wuchtig aufragen den viereckigen Tempelturm. Seine sieben Stufen zeichne ten sich scharf von diesem Hintergrund ab. Über ihm schwebte mit leisem Summen der fliegende Ring. Erst jetzt ging er nieder.
Fast berührte er die Stufen der Freitreppe. Auch aus seinem Rumpf wurden Bahren herausgeschoben. Dann stieg er wieder bis über die Spitze des Stufenturmes und verhielt dort.
Hoch über den Köpfen der Menge, auf dem ersten Absatz der viereckigen Stufenpyramide, zeigte sich jetzt die schwarze Gestalt des Hohenpriesters. Über den Platz lief eine Welle der Bewegung. Mehrere andere Gestalten umgaben den Hohenpriester. Den Menschen unten auf dem Platz schien es, als sei auch En-mer-kar unter ihnen. Vor dem Turm erschien Ia-du-lin in der Gruppe der ausgemergelten Gestalten aus den Gräbern. Sein heller Umhang wehte und bauschte sich im Morgenwind. Auch der violette und der sternengelbe Kegel Sils und Azuls schoben sich die Freitreppe bis zu den Bahren herauf.
Ein Ruf vom Rande des Platzes erklang. Die vielen Menschen blickten sich dorthin um. Auf dem kriechenden Felsblock erblickten sie staunend noch eine Kegelgestalt.
Erneut lief eine Welle des Raunens vieler Menschenstimmen über den weiten Platz. Neben den Hohenpriester war eine große, schlanke und schneeweiße und eine kleinere, feuerrote Kegelfigur getreten. „Der oberste Gott der Himmelssöhne und die Schwester der Götter“, flüsterten die einen. „Das sind A-nu und I-na-nua“, flüsterten die anderen. Ein frischer Morgenwind strich über den Platz und wischte das Gewisper hinweg.
Plötzlich erscholl eine mächtige Stimme von der Ziggurat.
„Menschenwesen! Wir Himmelssöhne verachten die Lu-guls, die der Ehre ihres toten Leibes wegen lebende Menschen mit sich begraben lassen. Es ist nicht der Wille eurer Götter, Gesunde hinter den Mauern der Grüfte sterben zu sehen. Eure Priester haben das Geheimnis der Vision falsch gedeutet, als sie den Dienern und Sklaven der Lu-guls im Namen der Götter geboten, in den Tod zu gehen.
Wir, Wesen aus der Weite des Himmels, verehren alles Leben. Wir fuhren deshalb in dieser Nacht auf einem Feuer zu euch herab, nicht um euch zu ängstigen oder zu strafen, sondern um jenen Unglücklichen, die in den letzten Tagen in den Grüften eingemauert wurden und eines langsamen und qualvollen Todes sterben sollten, schnell zu helfen und sie zu retten.
Auch ihr müßt das Leben verehren und nicht den Tod. Nur dann winkt euch Menschenwesen das ewige Leben; nur dann werden künftige Generationen in die Weite des Himmels gehen und wie wir von Stern zu Stern wandern können. Wir gebieten euch gegen euren Brauch zu handeln und nie mehr Lebende in den Grüften einzumauern.
Wir kehren bald in die Weite des Himmels zurück. Aber unsichtbare Feuer auf den Hügeln der Toten vor eurer Stadt werden darüber wachen, daß ihr unserem Gebot folgt. Zeit eures Lebens darf nie eines Menschen Fuß das Hügelland betreten. Das unsichtbare Feuer wird jeden, der dieses Gebot mißachtet, töten, noch ehe ein Jahr um ist.
Menschenwesen, verehrt das Leben!“
Verschlingende Wasser
Tivia kauerte vor dem Kontrollpunkt der Kreiselsektion.
Unablässig, seit Tagen schon, beobachtete sie die Lichtbänder, die Kurven und Meßsymbole zeigten, manchmal einschläfernd träge und manchmal aufzuckend schnell. Die neuen Kreisel wurden einem Probelauf unterzogen. Mit niedrigen Umdrehungszahlen war begonnen worden. Langsam steigerte Tivia die Tourenzahl. Zwischendurch wurde gemessen und korrigiert und wieder gemessen und wieder korrigiert, unaufhörlich. Immer wieder hatte sie durch die große Scheibe in die Vakuumkammer zu den rotierenden Riesen gesehen.
Endlich klang aus dem Kontrollpult leise ein tiefes Brummen auf, wurde lauter und steigerte sich zu einem Summen. Bald erreichten die Kreisel höchste Drehzahlen. Tivia löste den Blick vom Meßpult und sah froh dem majestätischen Tanz der bauchigen Riesen zu. Würden sie standhalten? Sie bangte.
Lange stand Tivia so. Da berührte sie jemand leicht. Sil war gekommen. Er wollte diese Augenblicke, da die Kreisel wieder summten, mit Tivia erleben. Sil lehnte sich an die Glaswand und versuchte, so wie sie die geheimnisvolle Melodie der Kreisel zu hören.
„Die Kenterprobe?“ fragte Sil nach feierlichem Schweigen.
In Tivias Augen erstrahlte bejahender Glanz. Sil eilte hinaus.
Währenddessen gingen Azul und Sinio über den weißglitzernden Salzstrand des Meeres der toten Wasser. Sie hatten in den letzten Tagen gemeinsam mit Tivia den Probelauf der Kreisel kontrolliert. Azul als Astronom hatte die genauen galaktischen Koordinaten ihrer gegenwärtigen Position, die Parameter der Bahn des blauen Planeten und andere Werte ermittelt, nach denen die Kreiselachsen eingestellt wurden, und Sinio berechnete am Myonenhirn die Differenzen zwischen Azuls und Tivias Angaben. Endlich waren die Kreisel aufs genaueste eingerichtet. Azul und Sinio verließen ihre Arbeitsplätze. Nur Tivia war noch geblieben.
Es war früher Morgen. Die blendenden Strahlen des gelben Sternes ergossen sich flach über die glatte Fläche des zähen Wassers und über das felsige Steilufer ringsum. Azul und Sinio hatten sich ihre leichten Skaphander angezogen.
Gravitationsplatten mit Antifeldern besaßen diese glänzenden Anzüge nicht, so daß sich die beiden Raumfahrer aus eigener Kraft fortbewegen mußten. Aber die Bewegung tat ihnen wohl.
Langsam entfernten sie sich von der „Kua“. Ein jeder hing seinen Gedanken nach.
Azul war nach seinem Erlebnis in der Grabhöhle wieder ganz der alte Kamerad geworden, ganz Raumfahrer, ganz Astronom und Navigator dieser Expedition. Seine Begegnung mit dem Hageren, der die Angst des Sklaven in sich niedergekämpft hatte, bevor er den Gang aus der Gruft graben wollte, und den Gott mit der Fackel schlug, hatte ihm geholfen, die Angst des Raumfahrers vor der Rückkehr in die Dunkelheit des Kosmos zu überwinden, hatte ihn auf sich selbst, auf seine Würde besinnen lassen und ihn von der Absicht, auf der Erde zurückbleiben zu wollen, abgebracht.
An jenem Tag, an dem die eingemauerten Menschen aus den Höhlen bei E-rech befreit worden waren, hatte Azul mit seinen Gefährten freimütig über seine Raumangst gesprochen. Zur „Kua“ zurückgekehrt, hatten sie sich versammelt und über Azuls Flucht vor dem All, über seinen Schritt abseits von ihnen gesprochen. Aber niemand verurteilte ihn oder mißtraute ihm deswegen. Denn Azul hatte rechtzeitig den Weg zu ihnen zurückgefunden. Seine Genesung von der Raumangst war eines der wichtigsten Ergebnisse ihres Aufenthaltes auf dem dritten Planeten des gelben Sterns.
Gohatis Überlegungen gingen sogar noch weiter. Eine der Ursachen dieser Raumangst, so erkannte er, lag in der ungleichen Zusammensetzung der Besatzung. Es war ein Fehler gewesen, fünf Kosmonauten und nur zwei Heloidinnen auf eine so weite Reise zu schicken. Schon in der nächsten Radiosendung zu Heloid, die die „Kua“ in großen Zeitabständen regelmäßig in Richtung der Gemeinschaft galaktischen Lebens über den Großen Abgrund hinweg ausstrahlte, wollte er diese Erkenntnis mitteilen, um andere Expeditionen vor der Auslösung der Raumangst durch diesen Faktor zu bewahren.
Seit jenem Morgen, da Gohati auf dem Tempelplatz E-rechs den Menschen erklärt hatte, sie seien keine Götter, sondern Sternenwanderer, die das Leben verehren und alle verachten, die Lebende einmauern, hatten sich die Heloiden von den Menschen zurückgezogen. Die Beschaffenheit der Erdkugel und des Lebens auf ihr war von den Heloiden soweit erforscht, daß sie ihre Vorstellungen von anderen Welten bestätigt fanden und ihre Kenntnisse bereichert waren. Auch der Bau des neuen Kreiselsystems ging dem Ende entgegen. Azul hatte zurückgefunden, daran bestand kein Zweifel mehr, und Sil sah ein, daß ihre Kraft nicht ausreichte, den Menschen den Weg durch Sklaventum und Götterglauben zu ersparen. Sie mußten ihn allein gehen, wenn sie zu neuen Erkenntnissen gelangen und vorankommen wollten.