Hier vermochte die Flut keinen der Menschen zu töten.
A-kim beobachtete gewissenhaft gemäß seines Auftrages die anstürmenden Wogen. Der schwarze Südsturm umtoste ihn.
Oft war es von den herabstürzenden Regengüssen so dunkel, daß er die Wellen nicht mehr zu sehen vermochte. Manchmal glaubte A-kim, die Riesenwelle nahe schon und stürze sich über das Land. Um seine Furcht zu bezwingen, tastete er sich ein Stück am Sandstrand entlang bis zum Holzplatz der Schiffbauer, die hier nahe der Stadt Boote gebaut hatten. Jetzt war der Platz von ihnen verlassen. A-kim suchte fieberhaft.
Bald fand er, was er brauchte: Stierhäute, zu Streifen geschnitten. Die Schiffer banden aus ihnen Gurte. Aber A-kim flocht sich starke Ledertaue. Als er sie fertig hatte, schlang er sie um den Rumpf eines Bootes, das hier gebaut war. Dann lauschte er. Bald hörte A-kim, wie das Brausen des großen Wassers zusehends leiser wurde und sogar ganz verstummte.
Das Meer flutete zurück. Da wußte er: Die Riesenwelle nahte.
Ihr Sog zog das Wasser zuerst an sich, um dann mit um so größerer Gewalt hereinzubrechen. A-kim rief die „Kua“. Er berichtete, daß das Meer jetzt zurückflutete.
Sinio dankte und kündigte ihm einen Tepi an.
Wirklich, wenig später kam eine dieser Libellen, wie A-kim die Tepis nannte. Azul steuerte sie. A-kim sprach mit ihm.
„Nimm die Ledertaue“, bat er. „Hebe das Boot, warte auf die Welle, ich will nicht mitkommen, ich will hierbleiben.“ Azul war nicht einverstanden, aber A-kim bestand energisch darauf.
Azul hob das Boot mit A-kim hoch. Die Flutwelle brauste heran. Als sie vorbei war, ließ sich A-kim auf das Wasser setzen.
A-kim rettete manchem der im Wasser Treibenden in dieser Nacht das Leben.
Tivia war zunächst mit Kalaeno und den Vertrauten zu einer anderen Stadt geflogen, um die Bevölkerung vor der Flut zu warnen. Jeder der Vertrauten hatte eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung auf die Gefahr aufmerksam zu machen: Ia-du-lin redete mit den Priestern, der Hagere mit den Soldaten, Kalaeno mit dem Herrscher und den Beamten und die drei Sandwanderer mit den Sklaven, Händlern und Bauern.
Dann aber, als alle Städte gewarnt waren und die Flutwelle nahte, hatten sie die Vertrauten überall im Land auf den Fluchthügeln abgesetzt. Zum Schluß waren nur noch Tivia und Ia-du-lin im Ringflügler gewesen. Neue Berechnungen ergaben, daß das Wasser die Stadt E-rech nicht mehr erreichen würde. Tivia sagte es Ia-du-lin. Deutlich war bei dieser Mitteilung ein nie gesehener Glanz über sein Gesicht gehuscht. Während er zuvor gedrückter Stimmung war, wurde er nun zusehends lebhaft und bat Tivia, ihn nach E-rech zu fliegen, damit er von dort aus Hilfe für die überschwemmten Gebiete organisieren könne. Tivia fand diesen Vorschlag gut, brachte Ia-du-lin dorthin und landete nahe der Stadtmauer. So berichtete sie später an Bord der „Kua“. Dann plötzlich warf sich Ia-du-lin beim Aussteigen von hinten auf sie.
Sil ließ die hohe Sturzwelle weit hinter sich. Der weißgischtende Schaum leuchtete noch einige Augenblicke aus der Dunkelheit. Mit voller Kraft ließ Sil den Weißen Pfeil vorwärtsstürmen. Die Rakete stieß durch die Wolken und schoß zum Meer der toten Wasser davon, einen langen Feuerstrahl ausstoßend.
Unterwegs grübelte Sil, wie sie den Menschen noch besser helfen konnten. Da kam ihm ein schwerwiegender Gedanke. Es gab eine Möglichkeit, die Macht der Flut zu brechen, ihre Wucht zu mildern, den größten Teil des Zweistromlandes zu retten und vor dem Untergang zu bewahren. Ja, das Wasser würde sogar wieder zurückfluten und das Meer in seine alten Ufer zurückkehren. Ich muß mich mit meinen Gefährten beraten, dachte Sil. Aber würden sie bereit sein, nun auch ihre letzte Hoffnung aufzugeben? Der Verlust des Kernproduktors hatte das Gelingen der Expedition ohnehin schon stark in Frage gestellt.
Während der Pilotron das kleine Raketenflugzeug steuerte, rief Sil alle Expeditionsteilnehmer: „Hier Weißer Pfeil! Hier Sil! An alle! Dringend! Bitte melden!“
„Hier Tepi zwei“, meldete sich als erster Azul. „Hier ›Kua‹“, klang dann Sinios Stimme aus dem Tonträger. „Hier Tepi eins.“ Das war Gohati. Tepi drei mit Aerona und der Ring mit Kalaeno und Tivia meldeten sich als letzte.
„Wir müssen die Landenge sprengen!“ sagte Sil. Er lauschte.
Werden sie wissen, was ich meine? „Das Wasser muß südwärts, nicht nordwärts fließen!“ Seine Stimme war dringlicher geworden.
Zögernd kam eine Frage von Tepi drei: „Wie? — Mit geologischen Raketen?“
„Wir haben davon nur noch zwei“, sagte Kalaeno vom Ring.
„Sie reichen für diese Sprengung längst nicht aus.“
„Also dann mit Kerntreibstoff!“ sagte Gohati. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
„Ja“, bestätigte Sil. Seine Stimme klang hart.
„Wieviel von unseren Vorräten brauchen wir dazu?“ fragte Sinio von der „Kua“.
„Etwa sechzig Prozent“, schätzte Sil.
„Das bedeutet, sofortige Umkehr unserer Expedition“, gab Gohati zu bedenken.
„Der Rest reicht kaum bis Heloid“, klang es von der „Kua“. Sinio hatte schnell am Myonenhirn nachgerechnet.
„Wenn wir jetzt soviel Treibstoff opfern, können wir auch die Dilatation nicht mehr voll nutzen“, erinnerte Gohati.
Daran hatte Sil noch gar nicht gedacht. Das bedeutete für die meisten der Expeditionsteilnehmer, daß sie nicht nur ihre Expedition ergebnislos abbrechen und zurück zu Heloid fliegen mußten, sondern daß sie auch schnell altern und sterben würden, noch bevor das Raumschiff den Heimatplaneten erreichte. Nur für die Jüngsten, für Tivia und ihn, bestand Aussicht, Heloid wiederzusehen.
„Unser Kernproduktor ist vernichtet“, warnte Kalaeno.
„Und unser Expeditionsauftrag?“ fragte Sinio.
Niemand sprach mehr. Sil hörte den Sturm im Zweistromland aus den Tonträgern heulen.
„Wie sprengen? Wie zünden?“ fragte endlich nach einer unendlich lang scheinenden Pause noch einmal Aerona.
„Kernzertrümmerung! Überkritische Mengen! Die Aussätzigen! Der Atomicer bringt sie hin!“ sagte Sil schnell.
Denn das war die beste Möglichkeit, die Landenge zu sprengen, wenngleich dabei der größte Teil der Energie ungenutzt blieb. Aber Eile tat not.
„Ja“, sagte als erster Azul. Er war der Älteste. Ihm betraf diese Entscheidung am stärksten.
„Ich stimme auch zu“, hörte Sil Tivia sagen.
„Dafür“, sagte Kalaeno kurz.
„Eigenartig“, murmelte Sinio. „Noch nie überwand jemand den Großen Abgrund.“ Er hatte sich schon damit abgefunden, daß die Expedition ergebnislos umkehrte und wohl kaum noch Heloid erreichen würde.
„Es muß sein“, entschied Aerona.
„Wir sprengen“, sagte Gohati.
Es war beschlossen. Was habe ich da angerichtet, fragte sich Sil in diesem Moment bestürzt. Einen kurzen Augenblick schwankte er. Das ist doch das Todesurteil für die anderen, dachte er. Das bedeutete nun endgültig, daß die Expedition scheiterte. Wofür? Für sich vernichtende, bekämpfende Lebewesen eines fremden Planeten? — Nein, so durfte er nicht denken! Sie handelten so, damit die Bewohner dieses Planeten schon in einigen tausend Jahren selbst Raumfahrt betreiben könnten und damit die Vernunft bald unter ihnen siegte!
„Ich danke euch!“ sagte Sil leise: Dann rief er die „Kua“.
„Atomicer eben gelandet“, meldete Sinio. „Die Aussätzigen stehen schon zum Verladen der Kerntreibstoffe bereit.“
Kurze Zeit später landete auch Sil mit dem Weißen Pfeil auf dem Meer der toten Wasser. Er stieg zum Atomicer um. Sinio hatte inzwischen weitere Roboterkolonnen zum Umladen der Kerntreibstoffe eingesetzt. Sil fieberte. Jede Minute, die er früher sprengen konnte, rettete Tausenden von Menschen, die sich noch auf dem Weg zu den Fluchthügeln befanden, das Leben. Sorgfältig berechnete er die Verteilung der Kernladungen an der verriegelten Meerenge. Endlich kam das Abflugsignal. Der Atomicer startete. Die Aussätzigen waren mit an Bord. Bald hatte der schnelle Atomicer sein Ziel erreicht. Noch blieb genug Zeit, die Kraft der Flutwelle zu brechen und einen Teil des Wassers südwärts durch die gesprengte Meerenge in den Ozean zu leiten.