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In weniger als einer Stunde überquerte er eine Brücke über einem breiten Kanal und wußte, daß er Marseille erreicht hatte. Kleine rechteckige Häuser, die wie Bausteine die Straßen vom Wasser heraufsäumten; schmale Gassen und überall Mauern — die Randbezirke des alten Hafens. Er kannte das alles und kannte es doch nicht. In der Ferne zeichnete sich auf einem der umliegenden Hügel die Silhouette einer Kathedrale ab, auf dem Dach konnte man ganz deutlich eine Statue der Jungfrau Maria erkennen. Notre-Dame-de-la-Garde — der Name drängte sich ihm auf; er hatte die Kirche schon einmal gesehen — und doch wiederum nicht.

Herrgott! Hör auf!

Binnen weniger Minuten befand er sich im pulsierenden Stadtzentrum und fuhr über die überfüllte Canebiere mit ihren teuren Geschäften. Die Strahlen der Nachmittagssonne spiegelten sich zu beiden Seiten im eingefärbten Glas der Schaufenster. Er bog nach links auf den Hafen zu, vorbei an Lagerhäusern und kleinen Fabriken und umzäunten

Freiflächen, auf denen Autos parkten, die für den Transport nach Norden in die Verkaufsräume von Saint-Etienne, Lyon und Paris bestimmt waren. Und für Bestimmungsorte auf der anderen Seite des Mittelmeers.

Instinkt. Du mußt deinem Instinkt folgen. Er durfte nichts außer acht lassen. All seine Fähigkeiten hatten einen unmittelbaren Nutzen; ein Stein war wertvoll, wenn man ihn werfen konnte, ein Fahrzeug, wenn jemand es kaufen wallte. Vor einem Platz, wo sowohl neue als auch gebrauchte Luxuslimousinen aufgereiht waren, parkte er am Randstein und stieg aus. Auf der anderen Seite des Zauns stand eine kleine Garage, Mechaniker in Overalls liefen mit Werkzeugen herum.

Er schlenderte über das Gelände, bis er einen Mann in einem Nadelstreifenanzug entdeckte, bei dem ihm sein Instinkt sagte, daß er der richtige Verhandlungspartner war.

Es dauerte weniger als zehn Minuten, und seine Erklärungen beschränkten sich auf das Notwendigste, dann war das Verschwinden des Jaguar nach Nordafrika durch Abfeilen der Motornummer garantiert und die mit Silbermonogramm versehenen Autoschlüssel wechselten für sechstausend Franc die Besitzer, was etwa einem Fünftel des Wertes von Chamfords Auto entsprach.

Daraufhin ließ sich Dr. Washburns Patient mit einem Taxi zu einem Pfandleiher bringen, der nicht zu viele Fragen stellte. Eine halbe Stunde später zierte die goldene Girard Perregaux nicht länger sein Handgelenk; er hatte sie gegen eine Seiko-Uhr und achthundert Franc eingetauscht. Alles hatte seinen Wert in Beziehung zu seinem praktischen Nutzen: Der Chronograph war stoßfest.

Die nächste Station war ein mittelgroßes Warenhaus an der Canebiere. Er wählte Kleider von der Stange, bezahlte sie und ließ einen schlecht sitzenden dunklen Blazer und Hosen in der Kabine zurück.

Im Erdgeschoß kaufte er sich einen weichen Lederkoffer und etwas Unterwäsche, die er gemeinsam mit dem Seesack im Koffer verstaute. Der Patient sah auf seine neue Uhr; es war beinahe fünf Uhr, Zeit, sich ein komfortables Hotel zu suchen. Er hatte ein paar Tage nicht geschlafen und brauchte Ruhe vor seiner Verabredung in der Rue Sarrasin, in einem Cafe, das sich >Le Bouc de Mer< nannte. Dort würden die Arrangements für eine wichtigere Verabredung in Zürich getroffen werden.

Er lag auf dem Bett und starrte zur Decke; der Lichtschein der Straßenlampen ließ unregelmäßige Reflexe über die weißen Wände tanzen. Die Nacht hatte sich schnell über Marseille gesenkt, und mit ihr hatte den Patienten ein Gefühl der Freiheit erfaßt. Es war, als hätte die Dunkelheit den grellen Schein des Tageslichts verschluckt, das ihm zu viel Eindrücke zu schnell offenbart hatte. Er war dabei, wieder etwas Neues über sich zu lernen: Er fühlte sich nachts sicherer. Wie eine halb verhungerte Katze konnte er in der Finsternis besser auf Raubzug gehen. Und doch regte sich in ihm ein Widerstand, und er spürte ihn auch. Während der Monate in Ile de Port Noir hatte er sich nach dem Sonnenlicht gesehnt, jeden

Morgen darauf gewartet und sich nichts sehnlicher gewünscht, als daß die Finsternis sich löse. Dinge widerfuhren ihm. Er war dabei, sich zu ändern.

Dinge waren ihm widerfahren. Ereignisse, die die Vorstellung, des Nachts erfolgreiche Streifzüge machen zu können, Lügen straften. Vor zwölf Stunden hatte er sich noch auf einem Fischerboot im Mittelmeer befunden, hatte ein Ziel vor Augen und zweitausend Franc in einem Päckchen an der Hüfte gehabt. Zweitausend Franc — das war nach dem augenblicklichen Wechselkurs etwas weniger als fünfhundert amerikanische Dollar. Jetzt verfügte er über akzeptable Kleidung, hatte sich in einem teuren Hotel eingemietet und besaß knapp über dreiundzwanzigtausend Franc, die er in einer Louis-Vuitton-Brieftasche aus dem Besitz des Marquis de Chamford aufbewahrte. Dreiundzwanzigtausend Franc… beinahe sechstausend amerikanische Dollar!

Woher kam er, daß er zu solchen Dingen imstande war?

Hör auf!

Die Häuser in der Rue Sarrasin waren so alt, daß sie in einer anderen Stadt vielleicht unter Denkmalschutz gestanden hätten. Die breite Gasse verband Straßen, die erst Jahrhunderte später entstanden sind. Aber dies war typisch für Marseille; Architektonik berührte sich hier mit mittelalterlichen Bauwerken, und beide arrangierten sich nur auf höchst unbequeme Weise mit der Neuzeit.

Die Rue Sarrasin war insgesamt höchstens sechzig Meter lang und schien mit der Zeit zwischen den Steinmauern der Gebäude erstarrt zu sein. Keine Straßenlaternen erhellten das gespenstische Dunkel, wenn die Nebel vom Hafen heraufwallten — der ideale Ort für Männer, die keinen Wert darauf legten, daß man sie beobachtete oder ihre Gespräche belauschte.

Das einzige Licht und die einzigen Geräusche drangen aus dem >Le Bouc de Mer<. Das Cafe lag ziemlich genau in der Mitte der breiten Gasse; im 19. Jahrhundert waren in dem Haus Büros untergebracht. Später hatte man mehrere Zwischenwände niedergerissen, um eine große Bar und Platz für Tische zu schaffen, die zum Teil in Nischen standen, um den Gästen, die das wünschten, einen ungestörten Aufenthalt zu bieten. Das war das Äquivalent des Hafenviertels für jene Privaträume in Restaurants an der Canebiere, und ihrem Status entsprechend gab es Vorhänge, aber keine Türen.

Der Patient bahnte sich einen Weg zwischen den überfüllten Tischen hindurch, wobei er sich entschuldigte, wenn er Fischer und betrunkene Soldaten beiseite schieben mußte oder grell geschminkte Huren, die nach Kundschaft Ausschau hielten. Er spähte in etliche Nischen, bis er schließlich den Kapitän des Fischerboots fand. Ein weiterer Mann saß bei ihm am Tisch. Er war hager und bleichgesichtig, und seine eng nebeneinander liegenden Augen musterten ihn wie die eines neugierigen Frettchens.

«Setzen Sie sich«, sagte der Skipper mürrisch.»Ich hatte Sie früher erwartet.«

«Sie sagten, zwischen neun und elf. Jetzt ist es Viertel vor elf.«

«Wenn Sie es so lange hinziehen, können Sie auch den Whisky bezahlen.«

«Gerne. Bestellen Sie etwas Anständiges, wenn die hier so was haben.«

Der bleichgesichtige Mann lächelte. Die Dinge werden sich richtig entwickeln, dachte der Patient.

Das taten sie auch. Der Paß gehörte ausgerechnet zu der Sorte, die am allerschwierigsten zu fälschen war, aber wenn man sich große Mühe gab, über die richtigen Hilfsmittel verfügte und ein Meister seines Faches war, würde es gehen.

«Wieviel?«

«Nun, die Sache ist mit viel Arbeit verbunden, die dazu verdammt knifflig sein wird. Das kostet natürlich sein Geld. Also zweitausendfünfhundert Franc.«

«Wann kann ich ihn haben?«

«Nicht vor drei oder vier Tagen. Bei der Frist muß ich den Künstler mächtig unter Druck setzen; er wird wütend sein.«

«Wenn ich ihn schon morgen bekomme, zahle ich tausend Franc mehr.«

«Um zehn Uhr früh«, sagte der hagere Mann schnell.»Dann wird er mich eben beschimpfen, das nehme ich in Kauf.«