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«Die Chance, Sie zu töten?«

«Ja. Es war nicht schwierig. Zwischen unseren Betten steht ein Nachtkästchen mit einer Waffe in der Schublade. Sie lag auf ihrem Bett, Goyas Maja, herrlich in ihrer Überheblichkeit. Sie hatte ja nie einen Gedanken an mich verschwendet. Ich öffnete die Schublade, holte mir Streichhölzer heraus und ging zu meinem Sessel und meiner Pfeife zurück. Ich ließ die Schublade offen, so daß man die Waffe deutlich sehen konnte.

Ich denke, daß es mein Schweigen war und die Tatsache, daß ich den Blick nicht von ihr wenden konnte, die sie erkennen ließen, daß ich alles wußte. Die Spannung zwischen uns hatte einen Punkt erreicht, wo Worte überflüssig sind. Ich hörte mich fragen: >Warum hast du das getan?< und dann nannte ich sie Hure, eine Hure, die meinen Sohn getötet hatte.

Sie starrte mich ein paar Augenblicke an und dann löste sich ihr Blick von mir, wanderte zu der offenen Schublade und der Waffe… und dem Telefon. Ich stand auf, und die Asche in meiner Pfeife glühte. Sie schwang die Beine vom Bett, griff mit beiden Händen in die offene Schublade und nahm die

Waffe heraus. Ich hielt sie nicht auf, nein, ich wollte es von ihren eigenen Lippen hören, wollte ihre Anklage gegen mich genauso hören, wie sie die meine gehört hatte. Was meine Ohren zu hören bekamen, werden sie mit ins Grab nehmen… Ich bin ein Ehrenmann.«

«General…«Borowski schüttelte den Kopf, er konnte jetzt nicht klar denken und wußte gleichzeitig, daß er nicht mehr viel Zeit hatte.»General, was geschah? Sie hat Ihnen meinen Namen genannt? Das müssen Sie mir sagen. Bitte.«

«Gerne. Sie sagte, Sie seien ein unbedeutender Revolverheld, der sich mit einem Genie messen wolle. Sie seien ein Dieb, der aus Zürich geflüchtet wäre, ein Mann, von dem sich die eigenen Leute losgesagt hätten.«

«Hat sie gesagt, wer diese Leute sind?«

«Wenn ja, dann habe ich das nicht gehört. Ich war blind, taub, von Haß verzehrt. Aber Sie haben von mir nichts zu befürchten. Das Kapitel ist abgeschlossen, mein Leben ist mit diesem Telefonat zu Ende.«

«Nein!« schrie Jason.»Tun Sie das nicht! Nicht jetzt.«

«Ich muß.«

«Bitte. Geben Sie sich nicht mit der Hure von Carlos zufrieden. Sie müssen sich an Carlos selbst rächen! Carlos in die Falle locken!«

«Und Schmach auf meinen Namen bringen, weil ich in die Fänge dieser Hure, dieser Schlampe geraten bin?«

«Verdammt noch mal — und was ist mit Ihrem Sohn? Fünf Stäbe Dynamit auf der Rue du Bac!«

«Lassen Sie ihn in Frieden. Lassen Sie mich in Frieden. Es

ist vorbei.«

«Es ist nicht vorbei! Hören Sie mir zu! Nur einen

Augenblick, mehr verlange ich nicht. «Die Bilder in Jasons

Bewußtsein jagten an seinen Augen vorbei, verschmolzen ineinander. Aber diese Bilder hatten Bedeutung. Er konnte Maries Hand auf seinem Arm spüren. Sie hielt ihn fest, war wie ein Anker für ihn, ein Anker, der ihn mit der Wirklichkeit verband.»Hat jemand den Schuß gehört?«

«Da war kein Schuß. Der Gnadenschuß wird heutzutage mißverstanden. Für mich hat er noch eine ehrenvolle Bedeutung. Um das Leid eines verwundeten Kameraden oder eines respektierten Freundes zu beenden. Für eine Hure gilt er nicht.«

«Was wollen Sie damit sagen? Sie sagten doch, Sie hätten sie getötet.«

«Ich habe sie erwürgt, sie gezwungen, mir in die Augen zu sehen, als der Atem ihren Körper verließ.«

«Sie hatte doch Ihre eigene Waffe auf Sie gerichtet…«

«Nutzlos, wenn einem die Augen von der heißen Asche einer Pfeife brennen. Das ist jetzt unwesentlich; sie hätte auch gewinnen können.«

«Sie hat gewonnen, wenn Sie es jetzt damit bewenden lassen! Verstehen Sie das denn nicht? Carlos siegt! Sie hat Sie zerbrochen! Und Ihr Verstand reichte nur dazu aus, sie zu erwürgen! Und Sie reden von Ehre? Was bleibt denn da an Ehre noch übrig?«

«Warum geben Sie denn nicht auf, Monsieur Borowski?«fragte Villiers müde.»Ich erwarte keine Wohltätigkeit von Ihnen, und auch von niemand anderem. Lassen Sie mich in Ruhe. Ich nehme mein Schicksal an. Sie erreichen nichts.«

«Doch, wenn Sie mir zuhören! Sie müssen Carlos in die Falle locken, sich an ihm rächen! Wie oft muß ich es denn noch sagen? Er ist es, den Sie wollen. Er macht Ihre Rache vollständig! Und er ist es auch, den ich brauche! Ohne ihn bin ich tot. Wir sind tot. Um Himmels willen, hören Sie mir doch zu!«

«Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich sehe keine Möglichkeit. Sie könnten auch sagen, daß ich nicht will.«

«Doch, es gibt eine Möglichkeit. «Die Bilder gewannen Gestalt. Er wußte jetzt, wohin sein Weg ihn führte.»Drehen Sie die Falle um. Vergessen Sie, was Sie mir gerade erzählten!«

«Ich verstehe Sie nicht.«

«Sie haben Ihre Frau nicht getötet. Ich war es!«

«Jason!« schrie Marie und umklammerte seinen Arm.

«Ich weiß, was ich tue«, sagte Borowski.»Zum ersten Mal weiß ich wirklich, was ich tue. Komisch, aber ich glaube, das habe ich von Anfang an gewußt.«

Parc Monceau war still, die Straßen verlassen, und in dem kalten, nebelhaften Regen glitzerten ein paar Außenlampen. Alle Fenster in der ganzen Reihe gepflegter, teurer Häuser waren dunkel, mit Ausnahme der Wohnung von Andre Francois Villiers, der Legende von Saint-Cyr und der Normandie, Mitglied der Nationalversammlung Frankreichs… und ein Frauenmörder. Die Fenster links vom Eingang und darüber leuchteten schwach. Das war das Schlafzimmer, in dem der Herr des Hauses die Dame des Hauses getötet hatte, wo ein verzweifelter alter Soldat die Hure eines Meuchelmörders zu Tode gewürgt hatte.

Villiers hatte nichts versprochen; er war zu benommen gewesen, um antworten zu können. Aber Jason hatte nicht lockergelassen, hatte dem anderen seine Botschaft mit solcher Eindringlichkeit immer wieder eingehämmert, daß die Worte förmlich aus dem Telefon hallten. Carlos! Begnügen Sie sich nicht mit der Hure des Mörders!

Holen Sie sich den Mann, der Ihren Sohn getötet hat! Den Mann, der auf der Rue du Bac fünf Dynamitstäbe in einen Wagen gelegt und den letzten Villiers ermordet hat. Er ist es, den Sie wollen, ihn müssen Sie sich holen, an ihm sich rächen!

Carlos. Carlos in die Falle locken. Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain. Ihm war es jetzt klar. Es gab keine andere Möglichkeit. Anfang und Ende waren gleich. Um zu überleben, mußte er den Meuchelmörder fangen; wenn er versagte, war er ein toter Mann und mit ihm Marie St. Jacques, für die es dann kein Leben mehr geben würde. Sie trug das Kainsmal, und wenn man sie beseitigte, würde das nicht als Verbrechen gelten. Sie war gleichsam ein Fläschchen mit Nitroglyzerin, das in der Mittte eines unbekannten Munitionsdepots auf einem Drahtseil balancierte.

Es gab so viel, das Villiers begreifen mußte, und so wenig Zeit, um es ihm zu erklären. Ein Wort nur mußte ihm wieder und wieder eingehämmert werden, und das hieß:

Carlos!

Das Haus des Generals hatte einen zweiten Eingang im Erdgeschoß, rechts von der Treppe hinter einem Tor, er diente dazu, die Küche im Souterrain zu beliefern. Villiers hatte sich einverstanden erklärt, das Tor und die Türe unversperrt zu lassen. Borowski hatte darauf verzichtet, dem General zu erklären, daß das nicht wichtig war, daß er auf jeden Fall einen Weg fände, ins Haus zu kommen. Zuallererst bestand die Gefahr, daß Villiers' Haus beobachtet wurde. Schließlich hatte Carlos guten Grund dazu. Die tote Angelique war seine Cousine und seine Geliebte… der einzige Mensch auf der Welt, der ihm etwas bedeutet. Philippe d'Anjou.

D'Anjou! Natürlich würde da ein Beobachter sein — oder zwei oder zehn! Wenn d'Anjou Frankreich verlassen hatte, würde Carlos das Schlimmste annehmen. Wo? Wo waren Carlos' Männer? Seltsam, dachte Jason, wenn in dieser Nacht niemand in Parc Monceau lauerte, war seine ganze Strategie wertlos.