Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain. Der Mann und der Mythos waren am Ende eine Person, Bilder und Realität verschmolzen ineinander. Es gab keinen anderen Weg.
Zehn Minuten waren verstrichen, seit er Marie angerufen und belogen hatte, und gehört hatte, wie sie das, was er ihr sagte, still aufgenommen hatte. Er wußte, daß das bedeutete, daß sie Zeit zum Nachdenken brauchte. Sie hatte ihm nicht geglaubt, aber an ihn glaubte sie; auch sie hatte keine andere Wahl. Und ihren Schmerz konnte er nicht lindern; dafür war keine Zeit mehr gewesen. Villiers rief jetzt vom Erdgeschoß eine Nummer im Conseiller Militaire Frankreichs an, die nur für Notfälle zur Verfügung stand, und arrangierte, daß ein Mann mit einem falschen Paß Paris unter Diplomatenstatus verlassen konnte. In weniger als drei Stunden würde ein Mann über den Atlantik fliegen und sich dem Jahrestag seiner eigenen
Exekution nähern. Das war der Schlüssel; das war die Falle. Das war die letzte irrationale Handlung.
Borowski stand am Schreibtisch; er legte den
Kugelschreiber weg und las die Worte noch einmal, die er auf den Briefbogen einer toten Frau geschrieben hatte. Es waren die Worte, die ein zerbrochener, verwirrter, alter Mann einer unbekannten Mittelsperson über das Telefon durchgeben
würde, und diese Mittelsperson würde das Papier verlangen und es Iljitsch Ramirez Sanchez geben.
Ich habe Deine dreckige Hure getötet und ich werde
wiederkommen und Dich fertigmachen. Es gibt einundsiebzig Straßen im Dschungel. Einem Dschungel, der so dicht ist wie Tam Quan, aber es hat einen Weg gegeben, der Dir entgangen ist, einen Kellerraum, von dem Du nichts wußtest — genauso wie Du am Tag meiner Exekution vor elf Jahren nichts von mir wußtest. Einen Mann hat es gegeben, der es wußte, und den hast Du getötet. Das ist jetzt nicht mehr wichtig. In jenem Kellerraum gibt es Dokumente, die mir die Freiheit verschaffen werden. Hast Du geglaubt, ich würde Cain werden, ohne jenen letzten Schutz zu haben? Washington wird es nicht wagen, mich zu berühren! Mir kommt es richtig vor, daß Cain am Tage von Borowskis Tod die Papiere holt, die ihm ein sehr langes Leben garantieren. Du hast Cain gezeichnet, jetzt zeichne ich Dich. Ich komme wieder, dann
Delta.
Jason legte das Blatt auf den Tisch und trat neben die tote Frau. Der Alkohol war trocken, die geschwollene Kehle bereit. Er beugte sich über sie und spreizte die Finger, legte seine Hände dorthin, wo vorher ein anderer die Hände gehabt hatte.
Kapitel 34
Über den Spitzen der Kirche in Levallois-Perret im nordwestlichen Paris leuchteten die ersten Strahlen der Morgensonne, es war ein kalter Märzmorgen, und an die Stelle des nächtlichen Regens war leichter Nebel getreten. Ein paar alte Frauen, die von der nächtlichen Putzarbeit in der Stadt in ihre Wohnungen zurückkehrten, betraten durch die schweren Bronzetüren das Kirchenschiff; in der Hand trugen sie ihre Gebetbücher. Gleich würde die Morgenandacht beginnen, um sie anschließend zu Hause in wenige Stunden wohlverdienten Schlafs sinken zu lassen, bevor die Mühsal des Tages wieder begann. Und dann waren da auch einige schäbig gekleidete Männer — die meisten ebenfalls alt, andere mitleiderregend jung —, die sich ihre Mäntel enger um die Schultern zogen und die Wärme der Kirche suchten, wobei sie in ihren Taschen Flaschen mit billigem Rotwein umklammert hielten, die ihnen das Vergessen gewährten.
Nur ein alter Mann schwebte nicht in tranceartigen Zuständen wie die anderen. Er war ein alter Mann, der es eilig hatte. In seinem faltigen, fahlen Gesicht war Widerstreben — vielleicht sogar Furcht — zu lesen. Aber an der Art, wie er die Treppen hinauf und durch die Kirchentore eilte, war kein Zögern zu bemerken, und er eilte weiter, vorbei an den flackernden Kerzen, den linken Gang hinunter. Es war eine seltsame Stunde, um die Beichte abzulegen. Dennoch begab sich dieser alte Bettler direkt zum ersten Beichtstuhl, schob den Vorhang auseinander und schlüpfte hinein.
«Angelus Domini…«
«Hast du es mitgebracht?« fragte die flüsternde Stimme, und die priesterhafte Silhouette hinter dem Vorhang zitterte vor Wut.
«Ja. Er hat es mir ganz benommen in die Hand gedrückt, hat geweint, gesagt, ich solle verschwinden. Er hat den Brief Cains verbrannt und sagt, er würde alles ableugnen, wenn je auch nur ein einziges Wort davon erwähnt werden sollte. «Der alte Mann schob die beschriebenen Blätter unter dem Vorhang durch.
«Er hat ihr Briefpapier benutzt — «Das Flüstern des Meuchelmörders brach, und die Silhouette einer Hand schob sich vor die Silhouette eines Kopfes, und jetzt konnte man hinter dem Vorhang einen halb erstickten Aufschrei hören.
«Ich muß Sie eindringlich bitten, daran zu denken, Carlos«, bat der Bettler.»Der Bote ist für die Nachricht, die er trägt, nicht verantwortlich. Ich hätte mich weigern können, sie Ihnen zu überbringen.«
«Wie? Warum…?«
«Die Lavier. Er ist ihr nach Parc Monceau gefolgt und dann beiden zu der Kirche. Ich habe ihn in Neuilly-sur-Seine gesehen, als ich in Ihrem Auftrag dort war. Das habe ich Ihnen gesagt.«
«Ich weiß. Aber warum! Er hätte sie auf hundert unterschiedliche Arten einsetzen können! Gegen mich! Warum
das!«
«Es steht in seinem Brief. Er ist verrückt geworden. Man hat ihn zu weit getrieben, Carlos. Das kommt vor; ich habe das schon mehrmals erlebt. Man nimmt einem Doppelagenten die Verbindungsleute weg; er hat niemanden mehr, der seinen ursprünglichen Auftrag bestätigen kann. Beide Seiten wollen seine Leiche. Das zieht und zerrt so an seinen Nerven, daß er möglicherweise nicht mehr weiß, wer er ist.«
«Er weiß es…«Das Flüstern war jetzt ganz leise, man spürte die Wut in jedem Wort.»Indem er mit dem Namen Delta unterschreibt, sagt er mir, daß er alles weiß. Wir beide wissen, woher das kommt, woher er kommt.«
Der Bettler hielt inne.»Wenn das stimmt, dann ist er immer noch gefährlich für Sie. Er hat recht. Washington wird ihm nichts tun. Vielleicht sieht er sich sogar gezwungen, ihm als Gegenleistung für sein Schweigen ein oder zwei Privilegien einzuräumen.«
«Die Papiere, von denen er spricht?«fragte der Killer.
«Ja. Früher — in Berlin, Prag, Wien — nannte man sie >letzte Zahlung<. Borowski gebraucht hier >letzten Schutz<, das ist eine geringfügige Abweichung. Es handelte sich um Papiere, die von einer erstrangigen Quellenkontrolle und dem Infiltrator ausgestellt wurden. Sie sollten dann erst benutzt werden, wenn die Strategie zusammenbrach, der Verbindungsmann getötet wurde und dem Agenten keine anderen Wege mehr offenstanden. Das war etwas, was Sie in Nowgorod sicher nicht gelernt haben; die Sowjets verfügten über solche Dinge nicht. Aber sowjetische Überläufer bestanden darauf.«
«Einundsiebzig Straßen im Dschungel…«, las Carlos von dem Blatt, das er in der Hand hielt. Eine eisige Ruhe hatte ihn jetzt erfaßt und war aus jedem geflüsterten Wort zu verspüren.»Ein Dschungel, der so dicht ist wie Tam Quan… Diesmal wird die Exekution planmäßig stattfinden. Jason Borowski wird dieses Tam Quan nicht lebend verlassen, auch unter keinem anderen Namen. Cain wird tot sein, und Delta wird für das, was er getan hat, sterben. Angelique — du hast mein Wort. «Damit war das Gelöbnis beendet, und die Gedanken des Meuchelmörders wandten sich wieder praktischen Dingen zu.»Hatte Villiers eine Ahnung, wann Borowski sein Haus verlassen hat?«
«Das wußte er nicht. Ich sagte Ihnen ja, er konnte kaum zusammenhängend sprechen, derselbe Schock wie bei seinem Anruf.«
«Das hat jetzt nichts zu sagen. Die ersten Flüge nach den Vereinigten Staaten sind schon in der letzten Stunde abgegangen. Er wird in einer dieser Maschinen sein. Ich werde mit ihm in New York sein, und diesmal entgeht er mir nicht. Mein Messer wird ihn erwarten, und es wird scharf wie eine Rasierklinge sein. Das Gesicht werde ich ihm in Fetzen schneiden; die Amerikaner werden ihren Cain ohne Gesicht bekommen! Dann können sie diesem Borowski, diesem Delta, jeden beliebigen Namen geben, der ihnen Spaß macht.«