— das ist mein Schlußergebnis.«
«Sie sind das nicht, Marie«, warf der erste ein.»Verrückt, meine ich. Ihr Vortrag gestern war brillant.«
«Das war er keineswegs«, sagte sie.»Das war reine Routine und furchtbar langweilig.«
«Nein, nein!«wandte der zweite ein.»Er war erstklassig; das muß er gewesen sein; denn ich habe kein Wort verstanden. Aber dafür habe ich andere Talente.«
«Verrückt… «
Die Liftkabine kam zum Stillstand; jetzt redete wieder der erste Mann.»Setzen wir uns doch in die letzte Reihe. Wir kommen ohnehin zu spät, und Bertinelli spricht. Ich glaube nicht, daß er uns was Neues erzählen wird. Seine Theorie von erzwungenen zyklischen Fluktuationen ist längst überholt.«
«Seit Cäsar«, meinte die Frau mit dem kastanienfarbenen Haar und lachte. Sie hielt inne und fügte hinzu:»Wenn nicht schon seit den Punischen Kriegen.«
«Also in die letzte Reihe«, sagte der zweite Mann und bot der Frau den Arm.»Da können wir ungestört schlafen. Er hat einen Diaprojektor; es wird dunkel sein.«
«Nein, gehen Sie nur voraus. Ich komme in ein paar Minuten nach. Ich muß erst ein paar Telegramme absenden, und zur Telefonvermittlung habe ich kein Vertrauen, daß die sie richtig durchgibt.«
Die Türen öffneten sich, und die drei verließen die Liftkabine. Die beiden Männer durchquerten gemeinsam die Hotelhalle, während die Frau auf den Empfangstresen zustrebte. Borowski folgte ihr und las geistesabwesend die Ankündigungen auf einer Hinweistafel, die ein paar Meter von ihm entfernt auf einem kleinen Sockel stand.
Willkommen:
Mitglieder der sechsten Weltwirtschaftskonferenz Sitzungskalender:
13.00 Uhr: The Hon. James Frazier, M.P., Großbritannien
Saal 12
18.00 Uhr: Dr. Eugenio Bertinelli, Universität Mailand,
Italien Saal 7
21.00 Uhr: Abschiedsessen des Vorsitzenden; Grüner Salon
«Zimmer 507. Die Vermittlung hat gesagt, für mich wäre ein Telegramm angekommen.«
Die Frau mit dem kastanienfarbenen Haar, die jetzt neben ihm am Tresen stand, sprach englisch. Sie hatte gesagt, sie erwarte Nachricht aus Ottawa: eine Kanadierin also.
Der Angestellte sah im Fach nach und brachte das Telegramm.»Doktor St. Jacques?«fragte er und hielt ihr den Umschlag hin.
«Ja, vielen Dank.«
Die Frau drehte sich um und riß das Couvert auf, während der Angestellte auf Borowski zuging.»Bitte, Sir?«
«Ich möchte das für Herrn Stössel hinterlegen. «Er legte den Umschlag mit dem Geld und der Notiz auf den Tresen.
«Herr Stössel wird erst morgen früh um sechs Uhr zurückkommen, Sir. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
«Nein, danke. Sorgen Sie nur dafür, daß er es bekommt. Es ist nichts Dringendes«, fügte er hinzu,»aber ich benötige Antwort. Ich werde mich morgen telefonisch an ihn wenden.«
«Selbstverständlich, Sir.«
Borowski griff nach seinem Koffer und trat durch eine breite Glastür, die zu einer kreisförmigen Auffahrt führte. Unter den Tiefstrahlern des Vordaches warteten einige Taxis. Die Sonne war untergegangen; es war Nacht in Zürich.
Er blieb stehen und hielt den Atem an. Eine Art Lähmung hatte ihn befallen. Seine Augen wollten nicht wahrhaben, was er draußen sah. Ein brauner Peugeot hielt vor dem ersten Taxi an. Die Beifahrertür öffnete sich, und ein Mann entstieg dem Wagen — ein Killer in einem schwarzen Regenmantel mit einer dünnen, goldgeränderten Brille. Kurz darauf stieg eine weitere Gestalt aus dem Auto; aber das war nicht der Fahrer, der an der Bahnhofstraße gestanden und ihn nicht erkannt hatte. Statt dessen war es ein anderer Killer mit einem anderen
Regenmantel, in dessen weiten Taschen man Waffen gut verbergen konnte. Es war derselbe Kerl, der in der Empfangshalle im ersten Stock der Gemeinschaftsbank gesessen hatte und eine Pistole mit Schalldämpfer gezogen hatte.
Wie hatten sie ihn gefunden?… Dann erinnerte er sich, und ihm wurde übel. Eine beiläufige Bemerkung von ihm hatte ihnen den Hinweis auf sein Hotel geliefert.
«Haben Sie einen angenehmen Aufenthalt in Zürich?«hatte Walther Apfel gefragt, während sie darauf warteten, daß sie wieder alleine im Zimmer waren.
«Ja, sehr. Ich habe ein Zimmer mit Blick auf den See. Die Aussicht ist wunderschön. Das Hotel liegt sehr ruhig.«
Koenig! Koenig war dabei, wie er das sagte. Die Hotels am See, zumal die, die von Leuten mit Drei-Null-Konten frequentiert wurden, waren schnell genannt und abzuzählen. >Carillon du Lac<, >Baur au Lac<, >Eden au Lac<. Ihre Namen fielen ihm rasch ein. Doch woher kannte er sie? Wie leicht war es also für seine Verfolger gewesen, ihn aufzustöbern!
Zu spät! Der zweite Mann hatte ihn nach einem suchenden Blick durch die Glastür entdeckt. Worte wurden über die Motorhaube des Peugeot gewechselt, Hände tauchten in übergroße Tasche, griffen nach unsichtbaren Waffen. Die beiden Männer strebten auf den Eingang zu, trennten sich im letzten Augenblick und postierten sich links und rechts vom Eingang. Die Flanken waren gesichert, er saß in der Falle.
Glaubten sie, sie konnten in eine überfüllte Hotelhalle eindringen und einfach einen Menschen töten?
Natürlich! Die vielen Menschen und der Lärm waren ihr Schutz.
Zwei, drei gedämpfte Schüsse, aus kurzer Distanz abgefeuert, würden ebenso wirksam sein wie ein Überfall auf einem überfüllten öffentlichen Platz bei hellichtem Tag; und in dem anschließenden Chaos würde die Flucht spielend leicht gelingen.
Empörung mischte sich in seine Gedanken. Wie konnten sie es wagen? Was brachte sie auf die Idee, daß er nicht davonrennen, Schutz suchen, nach der Polizei schreien würde? Und dann war die Antwort ebenso klar und niederschmetternd. Die Killer wußten mit Sicherheit den Grund, der ihn davon abhielt. Er konnte nicht zur Polizei gehen. Jason Borowski mußte sämtliche Behörden meiden… Warum? Suchten sie ihn?
Herrgott, warum?
Die beiden gegenüberliegenden Türen wurden von zwei ausgestreckten Händen aufgestoßen, die anderen blieben verborgen, umklammerten Waffen. Borowski drehte sich um; da waren Aufzüge, Gänge, Korridore. Es mußte ein Dutzend Wege geben, die aus dem Hotel herausführten.
Aber womöglich kannten die Killer, die sich jetzt durch die Menge drängten, die örtlichen Verhältnisse besser als er. Vielleicht hatte das >Carillon du Lac< nur zwei oder drei Ausgänge, die leicht von draußen bewacht werden konnten.
Ein einzelner Mann war ein auffälliges Ziel. Aber wenn er nicht allein wäre? Wenn jemand bei ihm wäre, der ihm als Deckung und Tarnung zugleich dienen konnte? Entschlossene Killer vermieden es, die falsche Person zu töten, nicht aus Mitgefühl, sondern weil die Gefahr bestand, daß das eigentliche Opfer entkam, wenn nach den tödlichen Schüssen eine Panik ausbrach.
Er spürte den Revolver in der Tasche, aber die Tatsache, daß er bewaffnet war, beruhigte ihn keineswegs. Ebenso wie in der Bank würde er sich verraten, wenn er sie benutzte, ja, sie nur zeigte. Aber sie war da. Er ging auf die Mitte der Hotelhalle zu und bog dann nach rechts, wo mehr Leute standen. Es war die frühe Abendstunde während einer internationalen Konferenz. Tausend Pläne für den Abend und die Nacht wurden geschmiedet, werbende Blicke wanderten zwischen hochrangigen Gästen und Kurtisanen hin und her. Gruppen bildeten sich.
Vor einer Wand hinter einem Marmortresen war ein Angestellter damit beschäftigt, gelbe Blätter mit einem Bleistift zu markieren, den er wie einen Pinsel hielt. Telegramme. Vor dem Tresen standen zwei Leute, ein beleibter alterer Mann und eine Frau in einem dunkelroten Seidenkleid. Ihr langes Haar war kastanienbraun. Es war die Frau aus dem Fahrstuhl, die sich vorhin nach dem Telegramm erkundigt hatte, das für sie bereitlag.