Er hatte gewonnen! Was auch immer es war, er hatte gewonnen.
Plötzlich stürzte er wieder in die Tiefe, in den Abgrund. Er spürte, wie die Wellen über seinen Schultern zusammenschlugen und die glühende Hitze an seinen Schläfen kühlten.
Seine Brust schmerzte. Etwas hatte ihn getroffen: der
Schlag, der plötzliche Aufprall. Es war wieder geschehen! Laßt mich allein! Gebt mir Frieden!
Und er schlug erneut um sich, trat zu… bis er ihn spürte, den dicken, öligen Gegenstand, der sich nur mit den
Bewegungen der See bewegte. Er konnte nicht sagen, was das für ein Gegenstand war, aber er war da, und er konnte ihn fühlen, ihn festhalten. Ihn festhalten! Er wird dich in den Frieden führen… in das Schweigen der Finsternis….
Die Strahlen der frühen Morgensonne durchbrachen im Osten den dunstigen Schleier am Himmel und ließen die ruhigen Wasser des Mittelmeers glitzern. Der Kapitän des kleinen Fischerboots saß mit blutunterlaufenen Augen am Heck, die Hände rissig von den Tauen. Er rauchte eine Gauloise und war froh, daß die See so ruhig war. Er sah zu dem offenen Steuerhäuschen hinüber; sein jüngerer Bruder schob den Gashebel vor, um die Fahrt zu beschleunigen, während der einzige andere Angehörige seiner Crew ein paar Meter von ihm entfernt ein Netz prüfte. Sie lachten über irgend etwas, und das war gut so; denn letzte Nacht hatten sie wahrhaftig nichts zu lachen gehabt. Wo war der Sturm bloß hergekommen? Die Wetterberichte aus Marseille hatten ihn nicht angekündigt; sonst wären sie im Schutz der Küste geblieben. Er wollte bis Tagesanbruch die Fischgründe achtzig Kilometer südlich von La Seyne-sur-Mer erreichen, aber nicht um den Preis kostspieliger Reparaturen, und welche Reparaturen waren heutzutage nicht kostspielig?
Auch nicht um den Preis seines Lebens, und während der vergangenen Nacht hatte es Augenblicke gegeben, wo solche Befürchtungen durchaus gerechtfertigt waren.
«Du bist müde, nicht wahr?«rief sein Bruder und grinste ihm zu.»Geh jetzt schlafen. Laß mich weitermachen.«
«Okay«, antwortete der Bruder und warf die Zigarette über Bord.»Ein wenig Schlaf schadet bestimmt nicht.«
Es war gut, einen Bruder am Steuer zu wissen. Am besten sollte immer einer aus der Familie das Schiff lenken; der paßt wirklich auf. Selbst ein Bruder, der die gewandte Sprache eines Gebildeten sprach, im Gegensatz zu seinen eigenen grobschlächtigen Worten. Verrückt! Ein Jahr auf der Universität — und schon wollte sein Bruder eine Gesellschaft gründen. Mit einem einzigen Boot, das vor vielen Jahren bereits bessere Tage gesehen hatte. Verrückt. Was hatten ihm denn seine gescheiten Bücher letzte Nacht genützt, als seine Compagnie beinahe gekentert wäre?
Er schloß die Augen und kühlte seine Hände in den Wasserpfützen auf Deck. Das Salz der See würde gut für die
Verbrennungen sein, die er sich zugezogen hatte, als er Geräte festzurrte, die im Sturm nicht an ihrem Platz bleiben wollten.
«Schau! Dort drüben!«Sein Bruder wollte ihm offenbar mit seinen scharfen Augen den Schlaf neiden.
«Was ist denn?«schrie er.
«Dort treibt ein Mann im Wasser! Er hält sich an etwas fest. An einer Planke oder etwas Ähnlichem.«
Der Skipper nahm das Steuer und lenkte das Boot rechts neben die Gestalt im Wasser und drosselte die Motoren, um die Kielwelle zu verringern. Der Mann sah aus, als würde ihn die geringste Erschütterung von dem Stück Holz rutschen lassen, an das er sich klammerte.
Seine Hände waren weiß. Wie Klauen hatten sich seine Finger um die Planke gelegt; aber aus seinem übrigen Körper war alle Energie gewichen, wie bei einem Ertrunkenen, wie bei jemandem, der von dieser Welt bereits Abschied genommen hat.
«Macht eine Schlinge in die Taue!«schrie der Skipper seinem Bruder und dem Matrosen zu.»Legt sie um seine Beine. Ganz vorsichtig! Jetzt zieht sie hoch bis zu seinen Hüften. Vorsichtig! hab' ich gesagt.«
«Seine Hände lassen die Planke nicht los!«
«Ihr müßt sie öffnen! Vielleicht ist das die Totenstarre.«
«Nein. Er lebt noch, wie mir scheint. Seine Lippen bewegen sich, doch es kommt kein Ton heraus. Seine Augen auch; aber ich bezweifle, daß er uns sieht.«
«Die Hände sind frei!«
«Hebt ihn hoch. Packt seine Schultern und zieht ihn herüber. Vorsichtig!«
«Mutter Gottes, seht nur seinen Kopf!«schrie der Matrose.»Er ist aufgeplatzt.«
«Er muß im Sturm gegen die Planke geschlagen sein«, sagte der Bruder.
«Nein«, widersprach der Skipper und starrte die Wunde an.»Das ist ein sauberer Schnitt, wie von einer Rasierklinge. Eine Kugel hat ihn getroffen; man hat auf ihn geschossen.«
«Das kannst du nicht sicher sagen.«
«Er hat noch mehr Schußwunden«, fügte der Skipper hinzu, dessen Augen den Körper absuchten.»Wir fahren zur Ile de Port Noir; das ist die nächste Insel. Dort gibt es einen Arzt.«
«Den Engländer?«
«Er wird ihn versorgen.«
«Wenn er kann«, sagte der Bruder des Skippers,»falls er nicht besoffen ist. Mit den Tieren seiner Patienten hat er jedenfalls mehr Erfolg als mit Kranken.«
«Das macht nichts. Bis wir da sind, ist der hier ohnehin eine Leiche. Sollte er zufällig doch überleben, stelle ich ihm das zusätzliche Benzin und den Fang, der uns entgeht, in Rechnung. Hol den Sanitätskasten; wir verbinden ihm den Kopf, auch wenn es nichts nützt.«
«Schau!«rief der Matrose.»Seine Augen!«
«Was ist mit ihnen?«fragte der Bruder.
«Gerade noch waren sie grau — grau wie Stahlkabel. Jetzt sind sie blau!«
«Die Sonne ist heller geworden«, sagte der Skipper und zuckte die Schultern.»Oder du hast dich getäuscht. Aber das ist egal, im Grab gibt's ohnehin keine Farben.«
Das gleichmäßige Tuckern der Fischerboote mischte sich in das unablässige Kreischen der Möwen; gemeinsam bildeten sie die typischen Geräusche an der Küste. Es war später Nachmittag, die Sonne stand wie ein Feuerball im Westen, die Luft war still, feucht und heiß. Über den Piers am Hafen verlief eine Straße mit Kopfsteinpflaster, an ein paar heruntergekommenen weißen Häusern vorbei, zwischen denen Unkraut aus ausgetrockneter Erde in die Höhe schoß. Das hölzerne Gitterwerk der Veranden war beschädigt und die zerbröckelnden Stuckdecken wurden von hastig eingefügten Stützen getragen. Die Villen hatten vor ein paar Jahrzehnten bessere Tage gesehen, damals, als die Bewohner irrtümlich glaubten, Ile de Port Noir könnte ein weiteres Eldorado des Mittelmeeres werden. Doch das wurde es nie.
Von allen Häusern führten schmale Wege zur Straße, aber der Pfad des letzten Hauses in der Reihe wurde offensichtlich häufiger begangen als die anderen. Dort lebte ein Engländer, der vor acht Jahren nach Port Noir gekommen war, unter Umständen, die niemand begriff oder begreifen wollte; er war Arzt, und das Dorf brauchte einen, Nadel und Skalpell waren ebenso Werkzeuge, die dem Lebensunterhalt dienten, wie Instrumente, an denen man sich verletzen konnte. Wenn le docteur seinen guten Tag hatte, waren seine Nähte gar nicht übel. Wenn allerdings der Gestank von Wein oder Whisky zu penetrant war, ging man als Patient eben ein Risiko ein.
Aber besser er als gar kein Arzt.
Heute jedoch hatte noch niemand den Pfad benutzt. Es war Sonntag, und jeder wußte, daß der Doktor sich jeden Samstagabend im Dorf betrank und die Nacht dann mit irgendeiner Hure verbrachte. Natürlich war auch bekannt, daß sich an den letzten paar Samstagen die Gewohnheit des Arztes geändert hatte; er hatte sich nicht mehr im Dorf blicken lassen. Aber so groß war die Änderung nicht; Flaschen mit Scotch wurden regelmäßig in sein Haus geschickt. Er blieb einfach daheim; das tat er, seit das Fischerboot aus La Ciotat den unbekannten Mann gebracht hatte, der dem Tod näher gewesen war als dem Leben.