«Ich schreie!«flüsterte sie.
«Dann schieße ich«, war seine Antwort. Er spähte um die Gestalten herum, die an der Wand lehnten; die Killer waren jetzt beide im Saal, kniffen die Augen zusammen, drehten die Köpfe wie erschreckte Nagetiere und versuchten, ihr Opfer zwischen all den Gesichtern zu entdecken.
Die Stimme des Redners klang jetzt scharf und eindringlich.
«Für die Skeptiker, zu denen ich heute Abend hier spreche
— und das sind die meisten von Ihnen — habe ich hier statistische Beweise! In der Substanz sind sie mit hundert anderen Analysen, die ich vorbereitet habe, identisch. Man soll den Markt denen überlassen, die sich in ihm auskennen. Kleinere Exzesse wird es immer geben. Sie sind nur ein geringer Preis für den allgemeinen Wohlstand.«
Einige klatschten. Bertinelli deutete mit seinem langen Zeigestab auf die Leinwand, hob das Offensichtliche hervor — das für ihn Offensichtliche. Jason lehnte sich wieder zurück; die goldgeränderte Brille glänzte im gleißenden Schein des Projektors. Der Killer mit der Brille berührte den Arm seines Begleiters, deutete mit einer Kopfbewegung nach links und befahl seinem Untergebenen, die Suche auf der linken Saalseite fortzusetzen; er würde die rechte übernehmen. Das vergoldete Brillengestell blitzte auf, als er sich seitlich an den stehenden Zuhörern vorbeischob und jedes Gesicht studierte. In wenigen Sekunden würde er die Ecke erreichen, sie erreichen. Ihm blieb nur noch, den Killer mit einem Schuß aufzuhalten: Wenn aber jemand in der Reihe vor ihm sich bewegte oder die Frau, die er gegen die Wand gedrückt hatte, in Panik geriet und ihn anstieß, so daß die Kugel den Killer verfehlte, dann steckte er in der Falle. Und selbst wenn er den Mann traf, lauerte noch ein Killer auf der anderen Saalseite, ohne Zweifel ein geübter Schütze.
«Bild dreizehn, bitte.«
Das war der Augenblick.
Das Licht verlosch. Borowski zerrte die Frau von der Wand weg, drehte sie herum und flüsterte ihr zu:»Wenn Sie einen Laut von sich geben, töte ich Sie!«
«Ich glaube Ihnen«, erwiderte sie erschreckt.»Sie sind wahnsinnig!«
«Los!«Er drängte sie den schmalen Gang hinunter, der zu der zwölf Meter entfernten Bühne führte. Das Licht des Projektors leuchtete wieder auf. Er packte die Frau am Hals, drückte sie auf die Knie und kauerte sich neben ihr nieder. Die Reihe der Sitzenden verbarg sie vor den Verfolgern. Er stieß sie an; das war sein Signal für sie, sich weiterzubewegen, zu kriechen… Langsam, geduckt. Sie begriff; sie rutschte zitternd auf Knien weiter.
«Die daraus zu ziehenden Schlüsse sind eindeutig«, rief Bertinelli.»Das Gewinnmotiv läßt sich nicht von den Produktivitätsanreizen trennen, aber die Rollen können nie gleich sein. Schon Sokrates hat erkannt, daß die Ungleichheit der Werte ein unumstößliches Faktum ist. Gold ist eben nicht Messing oder Eisen. Wer unter Ihnen könnte das leugnen? Bild vierzehn, bitte!«
Wieder Dunkelheit. Jetzt!
Er riß die Frau in die Höhe, stieß sie nach vorn auf die Bühne zu. Sie waren noch einen Meter vom Rand entfernt.
«Was ist los, bitte? Bild vierzehn!«
Das Diagerät klemmte erneut. Wieder herrschte Dunkelheit. Und dort auf der Bühne vor ihnen leuchtete rot die Schrift NOTAUSGANG. Jason umklammerte den Arm der Frau.»Auf die Bühne hinauf und zum Ausgang! Ich bin dicht hinter Ihnen; wenn Sie stehenbleiben oder schreien, schieße ich.«
«Um Gottes willen, lassen Sie mich los!«
«Noch nicht. Los!«
Das blendende Licht des Projektors flammte auf, überflutete die Leinwand und die Bühne. Aus dem Saal ertönten überraschte und spöttische Rufe, als die beiden Gestalten sichtbar wurden, und über alles erhob sich die Stimme des verärgerten Bertinelli.
Und dann waren noch andere Geräusche zu hören — das dumpfe Krachen von schallgedämpften Waffen. Holz splitterte. Jason drückte die Frau hinunter und sprang mit einem Satz auf den schützenden Schatten des Seitenflügels zu, zog sie hinter sich her.
«Da ist er! Da oben!«
«Schnell! Der Projektor!«
Ein Schrei hallte aus dem Mittelgang, als das Licht des Projektors nach rechts schoß und den Rand der Bühne erfaßte— aber nicht ganz. Der Kegel wurde von den Brettern teilweise abgedeckt, die den Seitengang verdeckten. Am hinteren Ende der Bühne war der Notausgang: eine hohe, breite Türe aus Metall mit einer Stange davor.
Glas splitterte; die rote Leuchttafel erlosch. Die Kugel eines Meisterschützen hatte sie getroffen.
In dem Vortragssaal war der Teufel los. Borowski packte die Frau an der Bluse und zerrte sie an den Brettern vorbei auf die Tür zu. Einen Augenblick lang leistete sie Widerstand; er ohrfeigte sie und zog sie neben sich, bis die Stange über ihren Köpfen war.
Kugeln klatschten rechts von ihnen gegen die Wand; die Killer rannten die Gänge herunter, um besser zielen zu können. Binnen Sekunden würden sie sie eingeholt haben, und dann würden andere Kugeln — eine einzige vielleicht nur — ihr Ziel finden. Sie hatten noch genügend Patronen, das wußte er. Er hatte keine Ahnung, wie es kam, daß er das wußte, aber er wußte es. Er konnte sich nach dem Geräusch die Waffen vorstellen, ihre Magazine und wieviel Schuß sie hatten.
Er löste die Stange und schlug mit dem Arm die Klinke nach unten. Die Türe flog auf und er warf sich hinaus, zerrte die um sich schlagende Frau mit sich.
«Hören Sie auf!«schrie sie.»Ich komme nicht weiter mit! Sie sind verrückt! Das waren Schüsse!«
Jason stieß die Metalltür mit dem Fuß zu.
«Stehen Sie auf!«
«Nein!«
Er schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht.»Tut mir leid, aber Sie kommen mit. Sobald wir draußen sind, haben Sie mein Wort, daß ich Sie gehen lasse.«
Die Türe! Er mußte die Tür blockieren! Im Halbdunkel entdeckte er Ziegelsteine. Mit der linken Hand hielt er Marie St. Jacques fest, mit der rechten türmte er hastig Stein auf Stein. Sein Ziel war es, die Türklinke zu blockieren. Wenn man sie von der Saalseite aus nicht niederdrücken konnte, war die Tür nicht zu öffnen.
Er hatte Glück; der oberste Stein paßte genau unter die Klinke.
Plötzlich wirbelte die Frau herum und versuchte sich seinem Griff zu entwinden; er glitt mit der Hand an ihrem Arm herunter, packte ihr Handgelenk und bog es nach innen. Sie schrie, Tränen standen in ihren Augen, ihre Lippen zitterten. Er zog sie neben sich und fing zu rennen an, schlug die Richtung ein, von der er glaubte, daß sie zum hinteren Ende des >Carillon du Lac< führte. Dort würde er die Frau vielleicht brauchen; ein paar Sekunden nur, in denen ein Paar das Hotel verließ, kein einzelner Mann, der auffällig davonlief.
Ein lautes Krachen ertönte, dann noch einmal; die Killer versuchten, die Bühnentüre zu öffnen, aber die Steine hielten und das Metall war nicht zu durchbrechen.
Die Frau versuchte erneut, sich loszureißen. Sie war am Rande der Hysterie. Er hatte keine andere Wahl; er packte ihren Ellbogen und drückte mit dem Daumen, so hart er nur konnte, gegen die Innenseite. Sie stöhnte auf, der Schmerz durchfuhr sie ganz plötzlich und war unerträglich. Schluchzend ließ sie sich von ihm mitreißen.
Schließlich erreichten sie eine Betontreppe, die zu einer Metalltür hinunterführte. Dahinter war der rückwärtige Parkplatz des >Carillon du Lac<. Er war fast da, wo er sein wollte. Jetzt kam es nur darauf an, daß sie sich unauffällig verhielten.
«Hören Sie mir zu«, sagte er zu der vor Angst erstarrten Frau.»Wollen Sie, daß ich Sie frei lasse?«
«O Gott, ja! Bitte!«
«Dann tun Sie genau, was ich Ihnen sage. Wir werden jetzt diese Stufen hinuntergehen und zur Tür hinaustreten — wie zwei völlig normale Leute am Ende eines ganz gewöhnlichen Arbeitstages. Sie hängen sich bei mir ein, und wir werden draußen leise miteinander sprechen. Wir werden beide lachen, so als redeten wir über komische Dinge, die während des Tages passiert sind. Haben Sie das verstanden?«