«In den letzten fünfzehn Minuten ist überhaupt nichts Komisches geschehen«, antwortete sie mit kaum hörbarer monotoner Stimme.
«Dann stellen Sie sich eben was Lustiges vor. Also, reißen Sie sich jetzt zusammen.«
«Ich glaube, mein Handgelenk ist gebrochen.«
«Nein, bestimmt nicht.«
«Mein linker Arm, meine Schulter — ich kann sie nicht bewegen.«
«Ich habe nur auf einen Nerv gedrückt; das geht in ein paar Minuten vorbei. Alles ist in Ordnung. Kommen Sie. Denken Sie daran: Wenn ich die Tür öffne, sehen Sie mich an und lächeln.«
Sie schob die verletzte Hand unter seinen Arm, und sie stiegen die kurze Treppe zur Tür hinunter. Er öffnete sie, und sie traten hinaus. Seine Hand in der Manteltasche hielt die Pistole des Franzosen umklammert, während seine Augen die Laderampe suchten. Über der Tür brannte eine einzelne Glühbirne hinter einem Schutzgitter. Ihr Licht beleuchtete die Betonstufen zur Linken, die aufs Pflaster hinunterführten. Als sie die Treppen hinuntergingen, war ihr Gesicht dem seinen zugewandt, ihre verängstigten Züge von dem fahlen
Lichtschein erhellt. Ihre vollen Lippen hatten sich zu einem starren Lächeln über den weißen Zähnen gespannt; ihre großen Augen waren zwei dunkle Höhlen und spiegelten elementare Angst. Die von Tränen benetzten Wangen waren blaß, mit roten Flecken, wo seine Hand sie getroffen hatte. Er betrachtete eine Maske, eingerahmt von dunkelrotem, schulterlangem Haar, in dem die Nachtbrise spielte — das einzig Lebende der Maske.
Ein ersticktes Lachen kam aus ihrer Kehle, die Adern an ihrem langen Hals traten wie Stränge hervor. Sie war kurz vor dem Zusammenbruch, aber daran durfte er jetzt nicht denken. Er mußte sich auf die Umgebung konzentrieren, auf jede geringste Bewegung. Es war offensichtlich, daß dieser dunkle, unbeleuchtete Parkplatz von den Angestellten des >Carillon du Lac< benutzt wurde; es war fast halb sieben, die Nachtschicht hatte ihren Dienst bereits angetreten. Alles war still. Die aufgereihten Fahrzeuge wirkten wie riesige Insekten, die ins Nichts starrten. Da, ein kratzendes Geräusch! Metall, das auf
Metall scharrte. Es kam von rechts, aus einem der Wagen. Er drehte den Kopf etwas zur Seite, als reagierte er auf eine witzige Bemerkung seiner Begleiterin. Dabei ließ er seinen Blick über die Fenster der Autos gleiten. Nichts.
War da etwas? Es war kaum sichtbar… ein winziger grüner Kreis, ein schwaches Glühen von grünem Licht. Es bewegte sich… während sie sich bewegten.
Grün. Klein… Licht? Plötzlich drängte sich ihm aus irgendeiner vergessenen Vergangenheit das Bild eines Fadenkreuzes auf. Seine Augen blickten in zwei dünne gekreuzte Linien! Fadenkreuz! Ein Teleskop… das Infrarotteleskop eines Karabiners!
Wie waren die Killer auf sie aufmerksam geworden? Darauf gab es eine ganze Anzahl von Antworten. Das tragbare Funkgerät in der Gemeinschaftsbank; vielleicht war jetzt auch eines im Einsatz. Er trug einen Mantel; seine Geisel nur ein dünnes Seidenkleid, und die Nacht war kühl. Keine Frau würde so ins Freie gehen.
Er beugte sich nach links, duckte sich und stieß Marie St. Jacques seine Schulter in den Leib. Sie taumelte zur Treppe zurück. Das gedämpfte Knacken wiederholte sich in immer wilderem Stakkato. Steine und Asphalt explodierten rings um sie. Er warf sich in Deckung. Hinter einem Mauervorsprung zog er die Pistole aus der Manteltasche. Er stützte das rechte Handgelenk mit der linken Hand und zielte mit der Waffe auf das Autofenster, hinter dem jemand einen Karabiner auf ihn richtete. Er feuerte drei Schüsse ab. Das alles geschah in Sekundenschnelle.
Aus der finsteren Silhouette der parkenden Limousine drang ein Schrei; er ging in ein Jammern, dann in ein Stöhnen über, bis er schließlich verstummte. Borowski lag reglos da, wartete, lauschte, beobachtete und war bereit, wieder zu schießen. Stille. Als er sich erheben wollte, konnte er sich kaum bewegen. Der Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, das Pochen war jetzt so heftig, daß er sich nach vorne beugen mußte. Er versuchte klar zu sehen, den Schmerz abzuschütteln. Er hatte sich beim Hinwerfen seine linke Schulter verletzt, Sehnen und Muskeln überdehnt, die noch nicht ganz geheilt waren. Aber er mußte aufstehen, den Wagen des Killers erreichen, den Mann herausziehen und mit dem Auto entkommen.
Er blickte zu Marie St. Jacques hinüber. Sie arbeitete sich langsam in die Höhe, kniete und stützte sich an der Außenwand des Hotels ab. Im nächsten Augenblick würde sie stehen und weglaufen.
Er durfte sie nicht fortlassen! Sie würde schreiend ins >Carillon du Lac< rennen; Männer würden kommen: einige, um ihn festzunehmen, andere, um ihn zu töten. Er mußte sie aufhalten!
Er rollte sich auf sie zu, bis er nur noch einen Meter von ihr entfernt war. Dann hob er die Waffe und zielte auf ihren Kopf.
«Helfen Sie mir hoch«, sagte er und hörte, wie nervös seine Stimme klang.
«Was?«
«Sie sollen mir auf die Beine helfen.«
«Sie haben gesagt, ich könnte gehen. Ihr Wort haben Sie mir gegeben!«
«Das muß ich zurücknehmen.«
«Nein, bitte!«
«Diese Waffe zielt genau auf Ihr Gesicht. Sie kommen jetzt her oder ich schieße.«
Er zog den Toten aus dem Wagen und befahl ihr, sich hinter das Steuer zu setzen. Dann öffnete er die hintere Tür und kroch auf die Sitzbank, so daß man ihn von draußen nicht sehen konnte.»Los!«sagte er,»fahren Sie, wohin ich sage.«
Kapitel 6
Immer wenn Sie selbst in einer Streßsituation sind — vorausgesetzt natürlich, Sie haben Zeit dazu —, verhalten Sie sich genauso, wie Sie reagieren würden, wenn Sie sich in eine Situation hineinversetzen, die Sie als Beobachter erleben. Lassen Sie Ihren Assoziationen freien Lauf, geben Sie den Gedanken und Bildern, die ins Bewußtsein drängen, so viel Raum wie möglich. Versuchen Sie nicht, irgendeine geistige Disziplin auszuüben. Konzentrieren Sie sich auf alles und nichts. Vielleicht kommen Ihnen dann Erkenntnisse über gewisse Dinge, zu denen Sie bislang keinen Zugang haben.
Borowski dachte an Washburns Worte, als er sich auf die Sitzbank zwängte und versuchte, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Er massierte seine Brust und die geprellten Muskeln. Der Schmerz war noch da, aber nicht mehr so stechend wie zuvor.
Jason hatte der Frau gesagt, sie solle langsam die Bellerive-Straße entlangfahren; es war dunkel, und er brauchte Zeit zum Nachdenken.
«Die Leute werden mich suchen«, rief sie aus.
«Mich auch«, erwiderte er.
«Sie haben mich gegen meinen Willen entführt. Sie haben mich wiederholt geschlagen. «Sie sprach jetzt mit weicherer Stimme, gefaßter.»Das ist Entführung, Körperverletzung… Sie sind jetzt aus dem Hotel heraus; Sie haben erreicht, was Sie wollten. Wenn Sie mich gehen lassen, sage ich nichts. Das verspreche ich Ihnen.«
«Sie geben mir Ihr Wort?«
«Ja.«
«Sie wissen, ich habe meines zurückgenommen. Das könnten Sie auch.«
«Sie sind anders. Ich tue das nicht. Niemand versucht, mich zu töten! O Gott! Bitte!«
«Fahren Sie weiter.«
Eines war ihm klar: Die Killer hatten gesehen, wie er seinen Koffer hatte fallen lassen. Sein Gepäck würde ihnen verraten, daß er im Begriff war, die Schweiz zu verlassen. Der
Flughafen und der Bahnhof würden beobachtet werden. Und das Verschwinden des Wagen, in dem er saß, würde eine Suchaktion auslösen. Er mußte also das Auto loswerden und ein anderes finden. Aber er war nicht mittellos. Er trug 100.000 Schweizer Franken und mehr als 16.000 französische Franc bei sich. Das war mehr als genug, um unerkannt nach Paris zu gelangen.