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«Was werden Sie tun?«fragte die Frau, als hätte sie Angst davor, seine Antwort zu hören.

«Warten. Über kurz oder lang wird jemand sein Auto hier abstellen.«

«Und wenn ein Wagen kommt, wie werden Sie ihn stehlen?«Sie hielt inne und beantwortete sich dann die Frage selbst.»Oh, mein Gott, Sie werden den Fahrer töten!«

Er packte ihren Arm. Ihr kalkweißes Gesicht war nur wenige Zoll von dem seinen entfernt. Er mußte sie durch Furcht unter Kontrolle halten, aber die Furcht durfte nicht in Hysterie umschlagen.»Wenn mir nichts anderes übrigbleibt, werde ich das tun, aber ich glaube nicht, daß es notwendig sein wird. Die Fahrzeuge werden von Hoteldienern hierher gebracht. Die Schlüssel läßt man gewöhnlich stecken oder legt sie unter die Sitze. Das ist einfacher.«

Da erleuchteten zwei Autoscheinwerfer den Parkplatz; ein kleines Coupe näherte sich ihnen, beschleunigte dabei scharf— typisch für einen Pagen. Der Zweisitzer schoß direkt auf sie zu und erschreckte Borowski. Sie waren von den Lichtstrahlen erfaßt worden; man hatte sie gesehen.

Eine Reservierung für den Speisesaal… Ein Restaurant. Jason traf seine Entscheidung; er würde den Augenblick nutzen.

Ein junger Mann stieg aus dem Wagen und legte die Schlüssel unter den Sitz. Als er an ihnen vorbeilief, nickte er ihnen zu. Borowski sprach ihn in französischer Sprache an.

«He, junger Mann! Vielleicht können Sie uns behilflich sein.«

«Monsieur?«Der Page kam zögernd auf sie zu. Offenbar dachte er an die Ereignisse im Hotel.

«Ich fühle mich nicht besonders gut, hab' zu viel von Ihrem ausgezeichneten >Schweizer Wein< getrunken?«

«Das passiert, Monsieur. «Der junge Mann lächelte, er war erleichtert.

«Meine Frau meinte, es wäre gut, etwas frische Luft zu schnappen, ehe wir in die Stadt zurückfahren.«

«Eine gute Idee.«

«Spielen die da drinnen immer noch verrückt? Ich dachte schon, der Polizeibeamte würde uns überhaupt nicht mehr hinauslassen, bis er sah, daß mir vielleicht übel werden würde… und ich seine Uniform…«

«Verrückt! Sie sind überall… Man hat uns gesagt, wir sollten nicht darüber sprechen.«

«Natürlich. Aber wir haben ein Problem. Ein Bekannter ist heute nachmittag mit dem Flugzeug angekommen, und wir wollten uns in einem Restaurant treffen. Nun habe ich leider den Namen vergessen. Ich war schon einmal dort, aber ich kann mich nicht erinnern, wo es ist und wie es heißt. Ich erinnere mich nur, daß drei seltsame Gebilde davor waren… irgendein Muster, denke ich. Dreiecke vielleicht.«

«Das sind die >Drei Alpenhäuser<. Das Lokal liegt in der Nähe der Falkenstraße.«

«Ja, natürlich, das ist es! Wie war bloß noch der Weg dahin?«

«Biegen Sie bei der Hotelausfahrt nach links ab. Nach der Brücke dann wieder links auf den Uto-Quai. Etwa 300 Meter geradeaus, links geht dann die Falkenstraße ab. An der nächsten Seitenstraße finden Sie ein Hinweisschild. Sie können das Restaurant also nicht verfehlen.«

«Vielen Dank. Sind Sie in ein paar Stunden noch hier, wenn wir zurückkommen?«

«Ich habe bis zwei Uhr morgens Dienst, Monsieur.«

«Gut. Ich werde mich nach Ihnen umsehen und meinen Dank etwas konkreter ausdrücken.«

«Vielen Dank, Monsieur. Kann ich Ihnen Ihren Wagen holen?«

«Sie haben schon genug getan. Ich muß noch ein paar Schritte zu Fuß gehen. «Der Page machte eine Verbeugung und ging zum Hotel zurück. Jason führte Marie St. Jacques zu dem Coupe.»Schnell! Die Schlüssel sind unter dem Sitz.«

«Wenn sie uns aufhalten, was tun Sie dann? Der junge Mann wird das Auto hinausfahren sehen; er wird wissen, daß Sie ihn gestohlen haben.«

«Wir warten, bis er sich wieder unter die Menge gemischt hat.«

«Und wenn er uns doch bemerkt?«

«Dann hoffe ich, daß Sie eine flotte Fahrerin sind«, entgegnete Borowski und zeigte auf die Tür.»Steigen Sie ein. «Der Page beschleunigte plötzlich seine Schritte, bevor er um die Ecke bog. Jason zog die Waffe aus der Tasche und hinkte schnell um die Motorhaube des Coupes herum, stützte sich darauf, während er die Pistole auf die Windschutzscheibe gerichtet hielt. Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein.»Verdammt, ich habe gesagt, Sie sollen die Schlüssel hervorholen!«

«Schon gut… ich kann nicht denken.«

«Dann geben Sie sich Mühe!«

«O Gott!.. «Sie griff unter den Sitz, tastete auf dem Boden herum, bis sie das kleine Lederetui fand.

«Lassen Sie den Motor an, aber warten Sie, bis ich sage, daß Sie losfahren sollen. «Er sah sich um, ob irgendwo Scheinwerfer von der Einfahrt in den Parkplatz hereinleuchteten; das wäre eine Erklärung dafür gewesen, warum der Page plötzlich zu laufen begonnen hatte, nämlich um einen Wagen zu parken. Aber da war nichts; es mußte also einen anderen Grund gegeben haben. Zwei unbekannte Leute auf dem Parkplatz…

«Fahren Sie jetzt, schnell. Ich will hier weg.«

Sie legte den Rückwärtsgang ein, und Sekunden später näherten sie sich der Ausfahrt zum General-Guisan-Quai.

«Langsam!«befahl er. Ein Taxi bog vor ihnen in die Einfahrt.

Borowski hielt den Atem an und blickte durch das gegenüberliegende Fenster auf den Eingang des >Carillon du Lac<; die Szene unter dem Vordach erklärte, weshalb der Page sich plötzlich beeilt hatte. Zwischen der Polizei und einer Gruppe von Hotelgästen war es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Eine Schlange hatte sich gebildet, die Namen der Leute, die das Hotel verließen, wurden notiert, was natürlich zu Verzögerungen führte, die nicht jedem paßten.

«Weiter«, sagte Jason und zuckte wieder zusammen, als erneut ein stechender Schmerz durch seine Brust schoß.

Es war ein eigenartiges Gefühl, gespenstisch und unheimlich. Die drei Dreiecke waren so, wie er sie sich ausgemalt hatte: dickes dunkles Holz im Halbrelief vor weißem Stein. Drei gleichgroße Dreiecke: abstrakte Nachbildungen von

Chaletdächern in einem Tal, das so tief mit Schnee bedeckt war, daß die unteren Geschosse verdeckt waren. Über den drei Spitzen war der Name des Restaurants in gotischen Buchstaben zu lesen: >Drei Alpenhäuser <. Unter der Grundlinie des mittleren Dreiecks war der Eingang. Die Doppeltüren bildeten gemeinsam den Bogen einer Kathedrale. Anstelle von Türklinken waren massive eiserne Ringe angebracht.

Die umliegenden Gebäude zu beiden Seiten der Gasse waren restaurierte Bauten aus längst vergangenen Zeiten. Alte Gaslampen verbreiteten schummriges Licht. Man konnte sich prunkvolle Kaleschen vorstellen, die hier von Pferden übers Pflaster gezogen wurden, die Kutscher eingehüllt in Schals, mit Zylindern auf dem Kopf. Gaslampen. Eine Straße, angefüllt mit Bildern und Geräuschen vergessener Erinnerungen, dachte der Mann, der keine Erinnerung besaß, die er vergessen konnte.

Und doch hatte er eine besessen, deutlich und beunruhigend. Drei dunkle Dreiecke, schwere Balken und Kerzenlicht… Er hatte recht gehabt; es war eine Erinnerung an Zürich. Aber in einem anderen Leben.

«Wir sind da«, sagte die Frau.

«Ich weiß.«

«Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

«An der nächsten Ecke biegen Sie nach links. Fahren Sie um den Block herum und dann noch einmal hier durch.«

«Warum?«

«Wenn ich das wüßte…«

«Was?«

«Weil ich es gesagt habe.«Jemand war dort… in jenem Restaurant. Warum kamen jetzt keine anderen Bilder? Ein anderes Bild. Ein Gesicht.

Sie fuhren noch zweimal an dem Restaurant vorbei. Zwei Paare und eine Gruppe von vier Leuten gingen hinein; ein einzelner Mann kam heraus und lief in Richtung Falkenstraße. Den Autos nach zu schließen, die am Randstein parkten, war das Lokal gut besetzt. In den nächsten zwei Stunden würden noch mehr Gäste kommen, da man in Zürich das Abendessen etwas später einzunehmen pflegte. Es hatte keinen Sinn, länger zu warten; Borowski fiel nichts mehr ein. Er konnte nur dasitzen und das Restaurant beobachten und hoffen, daß irgend etwas passierte. Ein Streichholzbriefchen hatte ein Bild der Wirklichkeit in ihm hervorgerufen. Und in jener Wirklichkeit gab es eine Wahrheit, die er aufspüren mußte.