Dr. Geoffrey Washburn erwachte und zuckte zusammen, das Kinn gegen das Schlüsselbein gedrückt, so daß ihm der eigene Mundgeruch in die Nase strömte; das war nicht angenehm. Er rieb sich die Augen, orientierte sich und blickte zur offenen Schlafzimmertür. Hatte ihn wieder ein zusammenhangloser Monolog seines Patienten aus dem Schlaf gerissen? Nein, nebenan war Stille. Selbst die Möwen draußen waren ruhig. Es war der heilige Tag von Ile de Port Noir. Heute würden keine Fischerboote in den Hafen tuckern und die Vögel mit ihrem Fang locken.
Washburn sah auf das leere Glas und die halbleere Flasche Whisky auf dem Tisch neben seinem Sessel. Man merkte den Fortschritt. An einem normalen Sonntag würde sie jetzt längst ausgetrunken sein und der Scotch den Schmerz der vergangenen Nacht ertränkt haben. Er lächelte und dachte an seine ältere Schwester in Coventry, die den Scotch mit ihrer monatlichen Zuwendung möglich machte. Bess war ein gutes Mädchen, und sie hätte ihm weiß Gott viel mehr schicken können, aber trotzdem war er ihr dankbar für die Unterstützung. Und eines Tages würde sie aufhören, ihm Geld zu überweisen, und dann würde er mit dem billigsten Wein seine Erinnerung betäuben, bis überhaupt kein Schmerz mehr da war.
Er hatte sich schon lange mit diesem Leben abgefunden… bis ein paar Fischer, die sich nicht zu erkennen geben wollten, vor drei Wochen und fünf Tagen den halbtoten Fremden an seine Tür geschleppt hatten. Aus ihrer Sicht war das reine Barmherzigkeit, sie hatten mit dem Mann nichts weiter zu tun. Gott würde verstehen, warum der Mann angeschossen worden war.
Der Doktor stemmte seinen hageren Körper aus dem Sessel und trat schwankend ans Fenster, von wo aus er den Hafen überblicken konnte. Er zog die Gardinen zu, um das helle Sonnenlicht auszusperren, und spähte zwischen den Falten des Vorhangs hinaus, um zu sehen, was sich weiter unten auf der Straße tat, insbesondere, woher das Klappern kam. Es war ein Pferdewagen, eine Fischerfamilie auf Sonntagsausfahrt. Wo, zum Teufel, konnte man so etwas sonst noch erleben? Und dann erinnerte er sich an die Kutschen und die gestriegelten Wallache, die sich in den Sommermonaten mit Touristen durch den Londoner Regent Park bewegten; er mußte bei dem Vergleich laut lachen. Aber sein Lachen dauerte nur kurz, denn es wurde rasch von einem Gedanken verdrängt, der ihm noch vor drei Wochen undenkbar gewesen wäre. Er hatte alle Hoffnung aufgegeben, England je wiederzusehen. Doch jetzt war es bereits durchaus möglich, daß sich das ändern würde — durch den Fremden.
Wenn seine Prognose nicht falsch war, konnte es jeden Tag geschehen, jede Stunde, jede Minute. Die Wunden an den Beinen und auf der Brust waren tief und wären möglicherweise sogar tödlich gewesen, wenn die Kugeln nicht da geblieben wären, wo sie sich eingenistet hatten, vom salzigen Meerwasser gesäubert. Sie herauszuholen war bei weitem nicht so gefährlich, wie es hätte sein können, denn das Gewebe drum herum war aufgeweicht und ohne Infekt. Das eigentliche Problem war die Kopfwunde; nicht nur, weil die Kugel in den Schädel gedrungen war, sondern weil sie allem Anschein nach den Thalamus und das Ammonshorn des Gehirns verletzt hatte. Wäre das Projektil auch nur wenige Millimeter weiter links oder rechts eingedrungen, hätte das den sofortigen Tod bedeutet. So aber waren alle wichtigen Lebensfunktionen unversehrt geblieben, Washburn hatte seine Entscheidung getroffen. Er blieb sechsunddreißig Stunden trocken, aß so viel Stärke und trank so viel Wasser, wie nur menschenmöglich war. Dann wagte er sich an den heikelsten Eingriff, den er seit seiner Entlassung aus dem Macleans Hospital in London durchgeführt hatte. Millimeter für Millimeter wusch er mit einem Pinsel die Gewebepartien aus, spannte dann die Haut und nähte sie über der Kopfwunde zusammen. Dabei war er sich bewußt, daß der geringste Fehler, sei es nun mit dem Pinsel, der Nadel oder der Klammer, den Tod des Patienten verursachen würde.
Er hatte aus den verschiedensten Gründen nicht gewollt, daß dieser Unbekannte starb, besonders aus einem nicht.
Als nach dem Eingriff die Lebenszeichen konstant blieben, widmete sich Dr. Geoffrey Washburn wieder seiner chemischen und psychischen Lebensstütze, dem Alkohol. Er hatte sich vollaufen lassen und soff auch weiterhin, hatte aber vor dem absoluten Blackout haltgemacht. Er wußte die ganze Zeit genau, wo er war und was er tat. Das war ganz entschieden ein Fortschritt.
Jeden Tag, jede Stunde, konnten die Augen des Fremden wieder klar werden und verständliche Worte über seine Lippen kommen.
Jeden Augenblick vielleicht.
Die Worte kamen zuerst. Sie schwebten in der Luft, als die frühe Morgenbrise, die von der See hereinwehte, das Zimmer abkühlte.
«Wer ist da? Wer ist in diesem Zimmer?«
Washburn setzte sich auf, schwang die Beine lautlos über den Bettrand und erhob sich langsam. Es war jetzt wichtig, den Patienten nicht zu erschrecken, kein plötzliches Geräusch zu erzeugen oder eine Bewegung, die den Patienten verängstigen könnte. Die nächsten paar Minuten würden ebenso delikat sein wie vorher der chirurgische Eingriff. Der Arzt in ihm war auf diesen Augenblick vorbereitet.
«Ein Freund«, sagte er mit weicher Stimme.
«Freund?«
«Sie sprechen englisch. Das hatte ich angenommen. Amerikaner oder Kanadier, hatte ich vermutet. Die Technik Ihrer Zahnversorgung kommt nicht aus England oder Paris. Wie fühlen Sie sich?«
«Ich weiß nicht genau.«
«Das wird eine Weile dauern. Müssen Sie Ihren Darm erleichtern?«
«Was?«
«Ich habe gefragt, ob Sie kacken müssen, alter Junge. Dafür ist die Schüssel neben Ihnen. Die weiße, links von Ihnen. Wenn wir es rechtzeitig schaffen, natürlich.«
«Tut mir leid.«
«Nicht nötig. Eine ganz normale Funktion. Ich bin Arzt, Ihr Arzt. Ich heiße Geoffrey Washburn. Und Sie?«
«Was?«
«Ich habe Sie gefragt, wie Sie heißen.«
Der Fremde bewegte den Kopf und starrte die weiße Wand an, auf der sich Strahlen des Morgenlichts abzeichneten. Dann wandte er sich wieder um, und seine blauen Augen blickten den Arzt an.»Ich weiß nicht.«
«Oh, mein Gott!«
«Ich habe es Ihnen immer wieder gesagt. Es dauert eine Weile. Je mehr Sie dagegen ankämpfen, desto schwerer machen Sie es sich, desto schlimmer wird es.«
«Sie sind betrunken.«
«Ja, im allgemeinen schon. Aber das tut hier nichts zur Sache. Nur wenn Sie mir zuhören, kann ich Ihnen Ratschläge geben.«
«Ich habe zugehört.«
«Nein, das tun Sie nicht; Sie wenden sich ab. Sie liegen in Ihrem Kokon da und kapseln sich ab.«
«Also, ich höre.«
«Während Ihres langen Komas redeten Sie in drei verschiedenen Sprachen: in englisch, französisch und in irgendeiner gottverdammten Singsangsprache, die ich für orientalisch halte. Das bedeutet, daß Sie in verschiedenen Teilen der Welt zu Hause sind. Welche Sprache fällt Ihnen am leichtesten?«
«Offensichtlich Englisch.«
«Darauf haben wir uns ja geeinigt. Und welche ist demnach die schwierigste für Sie?«
«Ich weiß nicht.«
«Ihre Augen sind rund, nicht oval. Ich würde also sagen, die orientalische Sprache.«
«Offensichtlich.«
«Warum sprechen Sie sie dann? Versuchen Sie jetzt einmal bei folgenden Worten zu assoziieren. Ich werde sie phonetisch aussprechen: Ma-kwa, Tam-kwan, Kee-sah. Sagen Sie das erste, was Ihnen in den Sinn kommt.«
«Nichts.«
«Eine gute Show.«
«Was, zum Teufel, wollen Sie?«
«Irgend etwas.«
«Sie sind betrunken.«
«Das hatten wir bereits festgestellt. Das bin ich immer. Ich hab' Ihnen auch Ihr verdammtes Leben gerettet. Betrunken oder nicht — ich bin Arzt. Früher war ich sogar ein sehr guter.«