Aber da war niemand mehr; der Kapitän hatte die Reling verlassen. Nur das Klatschen der Wellen gegen das Holz und das gedämpfte Brummen der Motoren waren zu hören.
Sie sind jetzt auf sich gestellt.
Er schauderte und drehte sich in dem kalten Wasser herum. Er nahm Kurs auf das Ufer, auf eine Gruppe von Felsen zu. Wenn der Kapitän ihn richtig beraten hatte, würde die Strömung ihn zu dem noch unsichtbaren Uferstreifen tragen.
Das tat sie; er spürte, wie der Sog seine nackten Füße in den Sand zog, was die letzten dreißig Meter nicht gerade erleichterte. Aber der Segeltuchsack war relativ trocken geblieben.
Minuten später saß er auf einer Düne, die mit wildem Gras bewachsen war; die langen Halme beugten sich in der Brise, und das erste Licht der Morgendämmerung drang in den Nachthimmel ein. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen; dann mußte er weiter.
Er öffnete den Sack und entnahm ihm ein Paar Stiefel und Socken sowie eine zusammengerollte Hose und ein grobgewebtes Baumwollhemd. Irgendwann in seiner Vergangenheit hatte er gelernt, wie man platzsparend packte; der Sack enthielt viel mehr, als man vermutete. Woher hatte er diese Fertigkeit? Die Fragen hörten nie auf.
Er erhob sich, zog die Shorts aus, die Washburn ihm gegeben hatte, und legte sie zum Trocknen aus; er durfte hier nichts liegenlassen. Dann schlüpfte er aus seinem Unterhemd und breitete es ebenfalls aus.
Nackt auf der Düne stehend, empfand er ein seltsames Glücksgefühl, in das sich ein hohler Schmerz in der Magengrube mischte. Dieser Schmerz war Angst, das wußte er. Und den Grund für sein Glücksgefühl begriff er auch:
Er hatte seine erste Prüfung bestanden. Er hatte einem
Instinkt vertraut, der ihm genau gesagt hatte, wie er sich verhalten mußte. Vor einer Stunde hatte er kein unmittelbares Ziel gehabt, nur den Drang verspürt, nach Zürich zu gelangen. Gleichzeitig aber war ihm auch klar, daß er dazu Grenzen überqueren und prüfende Blicke über sich ergehen lassen mußte. Der acht Jahre alte Paß war so offensichtlich nicht der seine, daß sogar der dümmste Zollbeamte das feststellen würde. Und selbst wenn es ihm gelang, damit die Schweiz zu betreten, irgendwann wollte er sie auch wieder verlassen; und bei jedem Schritt wuchs die Gefahr, daß man ihn entdeckte und verhaftete. Das durfte er nicht zulassen. Jetzt nicht, solange er nicht mehr wußte. Die Antworten auf die vielen Fragen lagen in Zürich. An sie zu gelangen, war nur möglich, wenn er sich frei bewegen konnte.
Und jetzt hatte er den Kapitän eines Fischerbootes dazu veranlaßt, ihm dabei zu helfen.
Sie sind nicht hilflos. Sie werden schon einen Weg finden.
Ehe der Tag vorüber war, würde er dafür gesorgt haben, daß Washburns Paß von einem Profi geändert wurde. Das war der erste konkrete Schritt, aber zuvor war da noch das Geldproblem zu lösen. Die zweitausend Franc, die der Arzt ihm gegeben hatte, reichten nicht; vielleicht würden sie nicht einmal genügen, um damit den Paß fälschen zu lassen. Was nützte ihm aber ein brauchbarer Paß, wenn er die finanziellen Mittel zum Reisen nicht besaß? Er mußte sich also Geld beschaffen. Nur wie?
Er schüttelte die Kleider aus, die er dem Sack entnommen hatte, zog sie an und stieg in die Stiefel. Dann legte er sich auf den Sand und starrte zum Himmel empor, der immer heller wurde.
Er schlenderte durch die engen, gepflasterten Straßen von La Ciotat, ging in Läden und redete mit den Verkäufern. Es war ein seltsames Gefühl, wieder unter Menschen zu sein, nicht mehr ein körperliches Wrack, das man aus dem Meer gefischt hatte. Er erinnerte sich an den Rat, den der Kapitän ihm gegeben hatte, und vermied den Pariser Dialekt. So war er ein nicht besonders auffälliger Fremder, der zufällig durch die Stadt kam.
Geld!
Es gab ein. Viertel in La Ciotat, wo offenbar eine etwas wohlhabendere Kundschaft einkaufte. Die Geschäfte waren sauberer, die Waren teurer und die Fische frischer; das Fleisch sah abgehangen aus und das Gemüse glänzte; darunter viele exotische Sorten, die aus Nordafrika und dem Mittleren Osten importiert waren. Ein wenig wirkte die Gegend wie ein Stück Paris oder Nizza, das man an den Rand einer Küstenstadt verpflanzt hatte. Ein kleines Cafe, zu dessen Eingang ein schmaler gepflasterter Weg führte, war zu beiden Seiten von gepflegten Rasenflächen umsäumt.
Geld!
Er betrat einen Fleischerladen und bemerkte, daß der Besitzer ihn unfreundlich musterte, so als wäre er nicht willkommen. Der Mann bediente gerade ein Ehepaar in mittleren Jahren, die ihrer Sprache und ihrem Auftreten nach Hausangestellte eines Landsitzes außerhalb der Stadt waren.
«Das Kalbfleisch letzte Woche war kaum zu genießen«, sagte die Frau.»Ich will diesmal besseres Fleisch haben, sonst muß ich in Zukunft in Marseille bestellen.«
«Und neulich«, fügte der Mann hinzu,»äußerte der Marquis mir gegenüber, daß die Lammkoteletts viel zu dünn waren. Ich wiederhole: drei Zentimeter.«
Der Schlachter seufzte und zuckte die Achseln. Höflich murmelte er eine Entschuldigung und versprach zugleich, sich heute mehr Mühe zu geben. Die Frau wandte sich ihrem Begleiter zu, wobei ihre Stimme keine Spur weniger befehlsgewohnt klang als bei ihrem Dialog mit dem Fleischer.
«Warte auf die Pakete und leg sie in den Wagen. Ich gehe inzwischen zum Lebensmittelhändler, wir treffen uns dort.«
«Natürlich, meine Liebe.«
Die Frau ging hinaus, wie eine Taube, die neue Körner suchte, auf denen sie herumpicken konnte. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als der Mann sich dem Ladenbesitzer zuwandte, wobei sich sein Verhalten völlig änderte. Die Arroganz war wie weggewischt, und er grinste.
«Der übliche Tag für dich, nicht wahr, Marcel?«sagte er und holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche.
«Es geht. Waren die Koteletts wirklich zu dünn?«
«Mein Gott, nein. Wann hat der das schon unterscheiden können? Aber sie fühlt sich wohler, wenn ich mich beklage, das weißt du ja.«
«Wo ist der Marquis, dieser Mistkerl, jetzt?«
«Betrunken nebenan; er wartet auf die Hure aus Toulon. Ich hole ihn heute nachmittag wieder ab und schmuggle ihn an der
Marquise vorbei in den Stall. Er benutzt Jean-Pierres Zimmer über der Küche, wie dir bekannt ist.«
«Ich habe es gehört.«
Als Washburns Patient den Namen Jean-Pierre hörte, wandte er sich von dem Schaukasten mit Geflügel ab. Das war ein automatischer Reflex, aber die Bewegung erinnerte den Fleischer an seine Anwesenheit.
«Was ist? Was wollen Sie?«
Das war der Augenblick, den gutturalen Akzent abzulegen.»Freunde in Nizza haben Sie mir empfohlen«, sagte der Patient im Pariser Französisch.
«Oh?«Der Ladenbesitzer schien seine Haltung sofort zu ändern. Unter seiner Kundschaft, besonders unter den jüngeren Leuten, gab es welche, die es vorzogen, sich nicht statusgemäß zu kleiden. Heutzutage galt das gewöhnliche Baskenhemd sogar als modisch.»Sind Sie neu hier, mein Herr?«
«Mein Boot wird gerade repariert; wir schaffen es heute nachmittag nicht mehr bis Marseille.«
«Kann ich etwas für Sie tun?«
Der Patient lachte.»Für meinen Koch vielleicht; ich möchte ihm aber nichts vorschreiben. Er kommt später vorbei. Ich habe schon einigen Einfluß auf ihn.«
Der Fleischer und sein Freund lachten.»Das kann ich mir denken, mein Herr«, sagte der Ladenbesitzer.
«Ich brauche ein Dutzend Enten und… achtzehn Chateau-briands.«
«Wird erledigt.«
«Gut. Ich werde den großen Meister der Kombüse direkt zu Ihnen schicken. «Der Patient wandte sich dem Mann in mittleren Jahren zu.»Übrigens, ich habe unwillkürlich mit zugehört… Nein, bitte, seien Sie unbesorgt. Der Marquis ist doch nicht etwa dieser Esel d'Ambois, oder? Ich glaube, jemand hat erwähnt, daß er hier lebt.«