Plötzlich und ohne plausiblen Grund hatte er aus dem Bauch heraus ein Gefühl böser Vorahnung, ähnlich dem, mit dem er an diesem Morgen aufgewacht war. Er riss den Briefumschlag auf. Während er die Stufen hinaufging, las er die einzige darin enthaltene, handgeschriebene Seite.
Lieber Scott,
selbst beim Schreiben dieser Zeilen kann ich noch nicht fassen, was ich Ihnen mitteilen muss. Brian ist tot. Wir haben ihn vor drei Wochen beerdigt, aber erst jetzt finde ich die Zeit und den Mut, seine Freunde im weiteren Umkreis zu benachrichtigen. Es geschah im Krankenhaus, es war ein absurder, tragischer Unfall. Brian wurde wegen eines Herzstillstands in die Notaufnahme gerufen. Er wollte dem Patienten einen Elektroschock verpassen, doch in dem Moment, als er die Elektroden ansetzte, gab es eine Fehlzündung, der Apparat ging irgendwie nach hinten los und versetzte ihm einen tödlichen Stromschlag. Seine Kollegen haben über eine Stunde lang versucht, ihn wiederzubeleben, aber sie konnten ihn einfach nicht zurückholen.
Brians Herz war sowieso schon angegriffen. Ich vermute, es lag an seinem Übergewicht. Er hat gutes Essen geliebt.
Es war ein schreckliches, schreckliches Unglück. Unsere Anwälte werden Klage einreichen, aber das bringt Brian auch nicht zurück. Er war ein guter Ehemann, ein guter Vater und ein guter Freund.
Obwohl wir beide, Scott, uns nie begegnet sind, habe ich das Gefühl, Sie zu kennen. Brian hielt sehr viel von Ihnen und hat oft von Ihnen gesprochen. Er hat mir erzählt, was vor Jahren geschehen ist, die Geschichte, an der er selbst, Sie und ein weiterer Mann namens Jake beteiligt waren. Ich musste ihm schwören, das Geheimnis für mich zu behalten, aber das spielt jetzt wohl keine Rolle mehr. Hauptsächlich schreibe ich Ihnen jetzt wegen dem, was er mir erzählt hat. Es muss furchtbar gewesen sein, besonders für Sie. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass Sie das Richtige getan haben. Das Leben geht eben weiter.
Mit Bedauern und besten Grüßen Delia Homer
Delias Brief, besonders der letzte Absatz, riefen in Scott eine Erinnerung hervor, die unter harten Schichten der Verdrängung vor sich hin gemodert hatte. Jahrelang hatte er sich bemüht, diese Erinnerung aus seinem Gedächtnis zu löschen. Jetzt erfasste ihn tief im Inneren ein solches Grauen, dass er zitterte und nach einem Halt suchen musste. Benommen lehnte er sich gegen den Türrahmen zum Schlafzimmer und starrte mit leerem Blick vor sich hin.
Wie im Traum nahm Scott seine Frau wahr, die in provokanter Pose und von einem Kissenberg gestützt vor dem Kamin lag. Im Kamin knisterte ein fröhliches Feuer, und Krista trug ihre gewagteste Reizwäsche. Vor ihr stand ein Behälter mit dicken Eiswürfeln, der eine Flasche edelsten Champagners kühlte. Daneben funkelten im Feuerschein zwei ihrer besten Kristallkelche.
Als Krista jetzt aufstand, wirkte sie eher erschrocken als sexy. Scott versuchte zu lächeln, versuchte so zu tun, als sei alles in Ordnung, als sei er ganz begeistert von dieser kleinen Intrige, die Gerry und Krista hinter seinem Rücken gesponnen hatten. Krista sah wirklich aufreizend aus. Wenn sie ihm nur einen Moment Zeit ließ, würde er gleich bei ihr sein, ihr zuprosten und später mit ihr schlafen ... Aber er konnte nicht, die Erinnerung hinderte ihn daran. Krista fasste ihn an der Armbeuge: »Scott, was ist los?«, fragte sie besorgt. »Du siehst schrecklich aus.« Als sie gleich darauf den Brief in seiner Hand bemerkte, schwang eine böse Vorahnung in ihrer Stimme mit, so dass sie schwankte. »Ist jemand gestorben? Jemand aus der Familie?«
»Nein, Kris. Keiner aus der Familie. Erinnerst du dich noch an die Jungs, mit denen ich die Studienjahre bis zum ersten Examen durchgezogen habe? Jake Laking und Brian Horner?«
Krista nickte, während sie in ihrem Gedächtnis kramte. Scott hatte die beiden seit den Tagen vor ihrer Hochzeit nicht mehr erwähnt. »Es ist Brian Horner. Er ist derjenige, der gestorben ist.« »Oh, Liebling. Das tut mir Leid. Aber - es ist doch schon
Jahre her, dass ihr eng miteinander befreundet wart. Als ich dich eben so in der Tür stehen sah, so verloren und blass, da dachte ich ... Ich weiß auch nicht. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Scott knüllte den Brief zusammen und schnipste ihn ins Feuer, wo er zunächst in einer bläulichen Flamme aufging und sich dann zu feiner schwarzer Asche zusammenkräuselte.
»Mir geht's gut«, erklärte Scott und nahm seine Frau in die Arme. »Ich hab ein paar zu viele intus, das ist alles.«
»Meinst du, du schaffst noch ein Letztes?«, fragte Krista, während sie den Verschluss ihres BHs aufschnappen ließ.
»Darauf kannst du wetten«, sagte Scott und legte sich mit ihr vor das offene Feuer. Wie sich herausstellte, war sein Geburtstagsgeschenk keineswegs hinter einem Stein versteckt.
Später schliefen sie dort ein.
Und zu Scotts Erleichterung hatte er in. dieser Nacht überhaupt keine Träume.
5
Scott wachte am Samstagmorgen kurz vor zehn auf. Er hatte einen Kater, und sein Körper war vom Schlafen auf dem Teppich ganz steif. Neben ihm, in einem Kübel voller Wasser, schwamm die leere Champagnerflasche. Als er sie entdeckte, musste er lächeln und an die vergangene Nacht denken ...
Doch das Lächeln verging ihm, sobald ihm Delia Horners Brief und die davon ausgelösten Erinnerungen einfielen. Es wunderte ihn, dass Brian seiner Frau von den schrecklichen Geschehnissen erzählt hatte. Er selbst hatte sich schon vor Jahren geschworen, mit Krista niemals darüber zu sprechen.
Am Fußende des Bettes fand er ein kleines, unbeholfen verpacktes Geschenk, und als er es öffnete, kehrte sein Lächeln zurück. Es war von Kath: eine unsägliche Kreatur, die sie aus Ton geformt hatte. Er stellte sie auf die Kommode, neben das gerahmte Foto seiner Eltern, und wandte sich den Flügelfenstern zu.
Der See da draußen wirkte aufgewühlt und der Himmel durch und durch grau, wie Zinn. Im Osten lauerte eine schwere Gewitterwolke am trüben Horizont, bedrohlich wie ein finsterer Koloss, der vorläufig nur sein Haupt und den kräftigen Torso zur Schau stellt. Es würde bald ein Sturm aufziehen. Typisches Wochenendwetter!
Als Scott sich vom Fenster abwandte, drang von draußen ein schriller Schrei zu ihm nach oben, so hoch und unvermittelt, dass er zusammenfuhr und erschrak. Dann sah er, wie Kath und ihre Freundin Lita am Anlegesteg herumgaloppierten und sich spielerisch mit viel Gekreisch schubsten. Erleichtert zog er seine Badehose an, griff nach einem Handtuch und schlenderte die Treppe hinunter.
Krista lag auf dem Fußboden des Wohnzimmers und verrenkte sich gerade zu einer nicht sehr damenhaften, aber faszinierenden Aerobic-Übung. Als sie gleich darauf ihre Position veränderte und die Beine bis an die Grenzen des Möglichen spreizte, stieg in Scott das unschöne Bild auf, wie sie mittendurch gerissen wurde. Sie versuchte ein Lächeln, das jedoch zu einer Art Grimasse wurde. Scott warf ihr einen Kuss zu und trat durch die mit Fliegengitter versehene Schiebetür nach draußen.
Kath eilte den Pfad hinauf, um ihn zu begrüßen. Als Scott sich hinabbeugte, um sie hochzuheben, warf sie sich in seine Arme. Ihr Körper fühlte sich klitschnass und kalt an. Dann gab sie ihm einen herzhaften Kuss und umschlang seinen Nacken mit ihren kräftigen, braun gebrannten Armen: »Haste mein Geschenk gekriegt?«
»Ja, hab ich, und es war allerliebst«, sagte Scott. Das, was er da ausgepackt hatte, war ein bunter, klumpiger Lehmmann mit Glotzaugen, einem Schweinerüssel, hochstehenden Haaren und einem breit grinsenden Mund mit Hasenzähnen.
Als originell konnte man dieses Geschenk vielleicht bezeichnen, aber ganz bestimmt nicht als allerliebst »Und du meinst wirklich, er sieht mir ähnlich?«